Eine Frau steht mit ihren Kindern vor ihrem beschädigten Haus in Chan Yunis im südlichen Gazastreifen
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Zivilisten ohne Ausweg

In Gaza gehen Wasser, Essen und Strom aus

Die neue, durch die radikalislamische Hamas ausgelöste Gewalteskalation gegenüber Israel trifft auch die Bevölkerung im Gazastreifen schwer. Die Menschen kämpfen inmitten von israelischen Luftschlägen verstärkt gegen die Knappheit bei Strom, Wasser und Lebensmitteln. Die Gesundheitsversorgung steht vor dem Kollaps. Die überwiegend junge Bevölkerung ist gefangen zwischen Israels Vergeltung und der Herrschaft der Hamas.

Der vergangene Samstag stellt für Israel eine Zäsur dar: Noch nie seit dem Holocaust seien so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag getötet worden wie bei den am Wochenende von der Hamas angerichteten Massakern, so Staatspräsident Jizchak Herzog. Dabei töteten Terroristen in Israel mehr als 1.300 Menschen, überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten. Die Gegenschläge sind wie von Israel angekündigt umfassend. Die Hamas werde bis zum letzten Mann zerstört werden, hieß es aus Jerusalem.

In die Schusslinie gerät dabei auch einmal mehr die Bevölkerung des Gazastreifens, der von Israel abgeriegelt wurde. Auch Ägypten schloss wegen israelischen Beschusses vorübergehend seinen einzigen Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen. „Ich habe alle Kriege und Einfälle der Vergangenheit miterlebt, aber ich habe noch nie etwas Schlimmeres als diesen Krieg erlebt“, so Jamin Hamad, dessen Haus durch israelische Angriffe auf Bait Hanun zerstört wurde.

Ganze Stadtviertel im Gazastreifen zerstört

Durch israelische Luftangriffe nach dem Hamas-Großangriff auf Israel sind ganze Stadtviertel im abgeriegelten Gazastreifen zerstört worden. Aus den Trümmern können viele Menschen nur noch tot geborgen werden.

Wenig Zuflucht

Im Gazastreifen wurden in den vergangenen Tagen ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht. Laut UNO starben in Gaza mehr als 1.400 Menschen, Hunderte von ihnen sollen nach israelischen Angaben Hamas-Kämpfer sein. Aber auch zahllose Zivilistinnen und Zivilisten sind betroffen. Rund 340.000 Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, viele sammelten sich in den überfüllten Einrichtungen der UNO. Andere Zufluchtsorte gibt es kaum.

Grafik zur Stromversorgung im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Durch die Abriegelung ist die ohnehin schon in der Vergangenheit unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Treibstoff, Strom und Medikamenten unterbrochen. Laut den Vereinten Nationen ist das Wasser inzwischen für über 650.000 Menschen knapp, wobei ohnehin nur jeder Zehnte Zugang zu sauberem Trinkwasser hat. Aus dem Gesundheitsministerium in Gaza hieß es, man befürchte, dass auch die Abwasseraufbereitungsanlagen stillgelegt würden, was zu Krankheiten im gesamten Gebiet führen würde.

Der Gazastreifen

Jahrhundertelang stand der Küstenstreifen unter osmanischer Herrschaft. Im Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Kontrolle, Ägypten sicherte sich den Streifen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Israel eroberte das Küstengebiet im Sechstagekrieg 1967 und zog sich 2005 daraus zurück. Seitdem kontrolliert Israel die Außengrenzen. Die Hamas gewann 2006 die Wahl und sieht sich seither als legitime Regierungsmacht.

Spitäler voll, Medikamente fehlen

Das einzige Kraftwerk im Gazastreifen wurde am Mittwoch abgeschaltet, weil der Treibstoff ausgegangen war. Ohne Strom kann auch kein Wasser in die Häuser gepumpt werden. Die Vorräte der Krankenhäuser an Medikamenten und Treibstoff für Notstromaggregate dürften ebenso innerhalb weniger Tage erschöpft sein.

„Das durch diese Eskalation verursachte menschliche Elend ist abscheulich, und ich flehe beide Seiten an, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern“, sagte Fabrizio Carboni, Regionaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), in einer Erklärung am Donnerstag: „Wenn der Strom in Gaza ausfällt, verlieren auch Krankenhäuser den Strom, was Neugeborene in Brutkästen und ältere Patienten, die Sauerstoff erhalten, gefährdet. Die Nierendialyse wird eingestellt, und Röntgenaufnahmen können nicht gemacht werden. Ohne Strom laufen Krankenhäuser Gefahr, sich in Leichenschauhäuser zu verwandeln.“

Das größte Spital von Gaza, das Al-Schifa-Krankenhaus, nimmt inzwischen keine Patienten mehr auf. Bereits am Vortag hieß es, die Spitäler in dem Küstenstreifen seien voll belegt. „Wenn das ein paar Tage so weitergeht, wird das Gesundheitssystem zusammenbrechen“, sagte Mohammed Abu Mughasib von Ärzte ohne Grenzen zu Reuters.

UNO-Organisationen und NGOs baten am Freitag um 294 Millionen Dollar für notleidende Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland. Der Spendenaufruf wurde von der UNO-Koordinatorin für humanitäre Hilfe in den Palästinensergebieten, Lynn Hastings, am Freitag auf sozialen Netzwerken verbreitet. Der größte Teil der Hilfsgelder solle dazu verwendet werden, 1,2 Millionen Menschen mit Nahrung zu versorgen.

Bevölkerungsdichte im Gazastreifen

Israel will erst Geiselfreilassung

Schnell dürfte sich aber keine Erleichterung einstellen. Israels Energieminister Israel Katz knüpfte die Wiederaufnahme der Grundversorgung im Gazastreifen an die Freilassung der israelischen Geiseln in der Hand der Hamas. „Kein Stromschalter wird umgelegt, kein Wasserhahn geöffnet, und kein Treibstofflaster fährt rein, bis die israelischen Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind“, schrieb Katz am Donnerstag auf Twitter (X).

Humanitäre Gesten werde es nur im Gegenzug für humanitäre Gesten geben. „Und dass uns keiner Moral predigt“, schrieb Katz. Die Armee verwies zudem darauf, dass die Hamas die Übergänge in das Küstengebiet selbst zerstört habe.

Wasser in Kanistern für die Bevölkerung von Chan Yunis im Süden des Gazastreifens
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Die Wasserversorgung zählt zu den größten Problemen im Gazastreifen

Mit 360 Quadratkilometern ist der von über zwei Millionen Menschen bewohnte Gazastreifen kleiner als Wien. Die Geburtenrate und das Bevölkerungswachstum gehören zu den höchsten weltweit, fast die Hälfte der Menschen dort ist jünger als 18 Jahre. Perspektiven sind rar, die Armut omnipräsent. Seit Generationen wird auf politischer Ebene zudem der Hass auf Israel geschürt.

Laut der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, die dort regelmäßig Umfragen durchführt, unterstützt rund die Hälfte der Bevölkerung in Gaza die Hamas. Bei der letzten Wahl zum Palästinensischen Legislativrat, dem Parlament der palästinensischen Gebiete und der palästinensischen Autonomiebehörde, errang die Hamas 2006 mit 76 die absolute Mehrheit der Mandate. Seither kontrolliert sie den Gazastreifen samt Polizei, Krankenhäusern und Rettungsdiensten.

UNO: Kollektivstrafe

Die Zerstörungen in Gaza sind weitaus größer als bei früheren Konflikten. Eine Bodenoffensive der israelischen Armee, die nach der Bildung einer Notstandsregierung in Jerusalem möglicherweise bevorsteht, würde die humanitäre Katastrophe noch einmal verschärfen.

Wie lange Israel den Gazastreifen bombardieren und abriegeln will, ist offen. UNO-Sonderberichterstatter sprachen am Donnerstag von einer Kollektivstrafe. Die Gruppe von unabhängigen Fachleuten verurteilte die Gräuel der Hamas, Israel habe aber seinerseits zu willkürlichen militärischen Mitteln gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens gegriffen, hieß es in ihrer Erklärung. Es gebe keine Rechtfertigung für Gewalt gegen unschuldige Zivilisten – weder von der Hamas noch von israelischen Soldaten. „Das ist nach internationalem Recht verboten und ist ein Kriegsverbrechen.“

Düsterer Ausblick

Sollte es Israel tatsächlich gelingen, die Hamas zu zerschlagen, würde im Gazastreifen ein Machtvakuum entstehen. „Andere Kriegsherren könnten die Kontrolle übernehmen, vielleicht noch schlimmer als die Hamas, falls das überhaupt möglich ist“, so Jonathan Rynhold, Leiter der Politikabteilung der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv, zur dpa. Eine andere Möglichkeit wäre es, dass die Palästinensische Autonomiebehörde wieder die Kontrolle über den Küstenstreifen übernimmt.

Sie könnte dann allerdings von der Bevölkerung als Verräter und Kollaborateur mit Israel gesehen werden. „Die Palästinensische Autonomiebehörde ist so korrupt, autoritär und gleichzeitig schwach, dass die Chancen dafür sehr gering sind.“ Auch eine neue, dauerhafte israelische Besatzung hätte einen zu hohen Preis, sagte Rynhold.

Der Einsatz einer internationalen Friedenstruppe hätte seiner Ansicht nach aber auch wenig Aussicht auf Erfolg. Ohne robustes Mandat hätte sie keine Chance, die Lage zu stabilisieren, meinte er. „Niemand will seine Truppen hierherschicken.“