Unterirdischer Tunnel im Gazastreifen
APA/AFP/Mahmud Hams
Tunnelsystem in Gaza

Israels unterirdische Herausforderung

Das weit verzweigte Tunnelsystem im Gazastreifen erhält in der aktuellen Gewalteskalation seit dem Überfall der Hamas am Samstag eine enorme Bedeutung. Niemand weiß genau, wie weit das Netz reicht. Durch diese Tunnel werden Waffen und Waren geschmuggelt – nun könnten dort auch israelische Geiseln festgehalten werden.

Schon seit vielen Jahren sind die Tunnel Teil des Konflikts, immer wieder wurden Teile davon durch das israelische Militär zerstört. Das Netz wird nicht nur für den Schmuggel von Waren, Treibstoff und Waffen verwendet, sondern auch für Angriffe. So wurden etwa 2006 aus einem Tunnel heraus zwei israelische Soldaten getötet und ein dritter, Gilad Schalit, entführt. Er wurde erst 2011 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs im Gegenzug für mehrere hundert Militante freigelassen.

Seit die Hamas 2006 die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat, verstärkte sie den Bau der Tunnel. Manche sollen bis zu 30 Meter unter der Oberfläche liegen. Tunnel für einmalige Verwendung sind rudimentär eingerichtet, jene für vielmaligen Gebrauch sind ausgestattet mit Betonwänden und -decken, Strom, Licht, manchmal auch Gleisen. Und sie verfügen über Räume zum Verstecken, wie die BBC berichtet.

Hamas spricht von 500 Kilometern

Wie weit das Netz, das in Israel auch „Gaza-Metro“ genannt wird, unter dem schmalen Küstenstreifen verbreitet ist, ist unklar. 2021 gaben die israelischen Streitkräfte (IDF) an, mehr als 100 Kilometer Tunnel zerstört zu haben. Die Hamas hingegen behauptete, ihre Tunnel erstreckten sich über 500 Kilometer, und nur fünf Prozent seien getroffen worden (zum Vergleich: Die Strecken der Wiener U-Bahn messen zusammen 83 Kilometer).

Die Tunnel sollen unter dem gesamten Grenzzaun verlaufen, auch unter der Grenze zu Ägypten, das mit Flutungen gegen den Schmuggel vorging. Viele Tunnel sollen in direkter Nachbarschaft zu israelischen Ortschaften enden. 2013 entdeckte die israelische Armee etwa einen rund 1,6 Kilometer langen Tunnel, der nahe einem Kibbuz endete. Die Anrainer hatten seltsame Geräusche vernommen und die Behörden alarmiert.

Grenzanlage zwischen Israel und dem Gazastreifen
IMAGO/ZUMA Wire/Ministry Of Defense Spokesperson
Zahllose Tunnel sollen unter dem Grenzzaun zu Gaza verlaufen

Zwei Schichten Gaza

Für Israel ist klar: Die Tunnel sind allein für die militanten Zwecke der Hamas gebaut. Sie nutze die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen aus, indem sie die Tunnel unter dicht besiedelten Gebieten baue. Denn die Zugangspunkte liegen auch versteckt in Schulen, Moscheen und Krankenhäusern, um Israel von Angriffen abzuhalten.

„Stellen Sie sich den Gazastreifen vor als eine Schicht für die Zivilbevölkerung und eine weitere Schicht für die Hamas. Wir versuchen, zu der zweiten Schicht zu gelangen, die die Hamas aufgebaut hat“, sagte ein IDF-Sprecher am Donnerstag. „Das sind keine Bunker für Zivilisten im Gazastreifen. Sie sind nur für die Hamas und andere Terroristen, damit sie weiterhin Raketen auf Israel abfeuern, Operationen planen und Terroristen nach Israel schicken können.“

Die Armee wirft der Hamas auch vor, Millionen an Hilfsgeldern, die für die Zivilbevölkerung gedacht sind, für den Tunnelbau zu verwenden. Für die Streitkräfte gehören die Tunnel zu den vorrangigen Angriffszielen. Seit der Attacke der Hamas am Samstag zerstörte die Armee nach eigenen Angaben rund 30 Tunnel.

Komplette Zerstörung unrealistisch

Es ist gut möglich, dass Terroristen der Hamas auch am Samstag die Tunnel für ihre Angriffe, bei denen rund 1.300 Israelis getötet wurden, nutzten. Medienberichten zufolge wurde in der Nähe des Kibbuz Kfar Asa, in dem Dutzende Zivilisten massakriert wurden, ein Tunnelausgang entdeckt. Sollten sich diese Berichte bestätigen, wäre der Tunnel unter einer unterirdischen Betonbarriere entlang des Grenzzauns gebaut worden. Die Grenze ist auch mit hochentwickelten Erkennungssensoren ausgestattet.

Grafik zur Lage im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Das wäre ein Schock, so Daphne Richemond-Barak von der israelischen Reichman-Universität, gegenüber der BBC. Aber kein Tunnelerkennungssystem sei narrensicher. Es sei auch unrealistisch anzunehmen, man könne das gesamte Tunnellabyrinth, das die Hamas errichtet habe, zerstören. „Es wird Teile des Netzwerks geben, aus denen Zivilisten, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Sicherheit gebracht werden. Einige Teile des Untergrundnetzwerks sind unbekannt. Und für einige von ihnen wird der Kollateralschaden zu hoch sein.“

Denn die Zerstörung der Tunnel werde auch zu erheblichen Verlusten an Menschenleben führen – unter den israelischen Streitkräften dort, palästinensischen Zivilisten und Geiseln, so Richemond-Barak. „Die Hamas ist sehr gut darin, menschliche Schutzschilde einzusetzen.“

Sprengfallen in Tunneln

Auch IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar vermutete Geiseln, von der Hamas am Samstag verschleppt, in dem verzweigten Tunnelsystem. Es stünden „schwierige Tage bevor“, denn die Tunnel stellten eine Gefahr für die Geiseln, die Zivilbevölkerung und für die israelischen Soldaten dar, so Schalikar zur deutschen „Welt“.

Die Tunnel seien mitunter ausgestattet mit Sprengfallen, so Richemond-Barak. „Die Hamas könnte Soldaten einfach in das Tunnelnetzwerk eindringen lassen und dann das Ganze in die Luft jagen.“ Andrew Galer, ein ehemaliger britischer Offizier, der jetzt als Analyst für den privaten Dienst Janes arbeitet, sprach gegenüber der Nachrichtenagentur AFP von einem „360-Grad-Schlachtfeld, in dem die Bedrohung überall lauert“, auf den Dächern genauso wie unter Tage.