Palästinenser gehen durch ein beschädigtes Gebäude nach einem Luftangriff
Reuters/Mohammed Salem
Vor Bodenoffensive

Menschen im Gazastreifen ohne Ausweg

Eine Woche nach dem verheerenden Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel rückt eine Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen immer näher. Zehntausende Menschen sind bereits in den Süden des Küstengebiets geflohen. Aber es gibt auch viele, die den Aufforderungen des israelischen Militärs zur Flucht nicht gefolgt sind. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffith sprach am Samstag von einer Lage, die „rasch unhaltbar“ werde.

Samstagabend wurde endgültig klar, dass eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen nur noch eine Frage des Wann und nicht mehr des Ob sein würde. Die israelische Armee kündigte einen „integrierten und koordinierten Angriff aus der Luft, vom Meer und dem Land“ auf die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen an. An der Grenze zum Gazastreifen hatte Israel zuletzt Zehntausende Soldaten zusammengezogen. Bei einem Truppenbesuch sprach Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von „der nächsten Phase“, die kommen werde.

Bereits am Donnerstag hatte die israelische Armee rund 1,1 Millionen Zivilisten im Norden des Gazastreifens aufgefordert, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Nach Auslaufen eines ersten Ultimatums gab die Armee den Bewohnerinnen und Bewohnern am Samstag erneut Zeit, sich auf einer eingezeichneten Fluchtroute in den Südteil des Küstenstreifens zu begeben. Nachdem sich das von der Armee angekündigte Zeitfenster am Nachmittag geschlossen hatte, blieb unklar, was das für jene Menschen bedeutet, die der Aufforderung zur Flucht noch nicht gefolgt waren.

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Dutzende Palästinenser stehen vor einer Bäckerei angestellt
Reuters/Mohammed Salem
Vor Lebensmittelgeschäften – wie hier vor einer Bäckerei – bildeten sich lange Schlangen
Palästinenser fliehen auf einem Karren mit einem Esel
AP/Hatem Moussa
Zehntausende flohen vom Norden des Gazastreifens in den Süden
Palästinenser laden ihre Telefone mit einer Solaranlage
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Schon zuvor war die Stromversorgung im Gazastreifen lückenhaft – inzwischen ist elektrische Energie ein rares Gut
Kind schläft auf dem Schoß seiner Mutter am Boden
Reuters/Mohammed Salem
Viele Menschen verließen inzwischen ihre Häuser
Menschen im Gazastreifen holen Wasser bei einem Lkw mit Wassertank
Reuters/Saleh Salem
Auch Trinkwasser wird inzwischen knapp

Samstagabend hieß es von der Armee jedoch, Israel räume den Bewohnern weitere Zeit ein, „weil es noch eine riesige Menge Leute gibt, die gehen müssen“. „Wir werden den Zivilisten weiterhin Zeit geben, die Orte zu verlassen, die die Hamas nach unserer Überzeugung für ihre terroristische Infrastruktur nutzt“, sagte auch Außenministeriumssprecher Lior Haiat.

Massenflucht vor Bodenoffensive

In Israel laufen Vorbereitungen auf einen koordinierten Angriff Israels auf den Gazastreifen – nicht nur am Boden, sondern auch auf dem Meer- und Luftweg. Die Bodenoffensive könnte jederzeit starten.

Laut Israel versucht die Hamas, Zivilisten von der Flucht aufzuhalten. Augenscheinlich ist, dass die Hamas die Bewohnerinnen und Bewohner zumindest zum Bleiben aufruft. In einer Fernsehansprache forderte Hamas-Chef Ismail Hanija am Samstag die Menschen im Gazastrefen auf, sich der „Vertreibung“ innerhalb des Palästinensergebiets oder nach Ägypten zu verwehren.

Tote bei Angriff auf Fluchtkonvoi

Für Verstörung sorgten am Samstag Bilder und Videos, die einen Angriff auf einen Flüchtlingskonvoi am Freitag zeigen sollten. Dabei wurden laut palästinensischen Angaben auch Kinder getötet. Mehrere Medien, darunter die britische BBC, bestätigten die Echtheit des Materials. Die israelische Armee wollte sich am Samstag nicht zu Details äußern.

WHO: Evakuierungsaufruf für Krankenhäuser aufheben

Der Aufruf zur Evakuierung erging auch an die Spitäler im Norden des Gazastreifens. Mehrere Einrichtungen kündigten allerdings bereits an, der Aufforderung nicht nachzukommen. Nach dem Al-Kuds-Spital in Gaza-Stadt teilten auch das El-Uda-Krankenhaus und das Kamal-Adwan-Kinderspital mit, dass eine Evakuierung nicht möglich sei. Das berichtete die israelische Tageszeitung „Haaretz“ unter Berufung auf die Hilfsorganisation Physicians for Human Rights–Israel.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte Israel auf, den Aufruf zur Evakuierung von Krankenhäusern sofort zurückzunehmen. Gesundheitseinrichtungen, Mitarbeiter und Patienten müssten geschützt werden.

Das Al-Kuds-Spital wurde in den vergangenen Tagen auch Zufluchtsort für zahlreiche Palästinenserinnen und Palästinenser, darunter viele Kinder und alte Menschen. Laut dem Leiter des größten Krankenhauses in Gaza suchen zurzeit 35.000 Menschen im Krankenhaus Schutz. Viele Menschen seien zu alt, zu krank oder zu schwach, um Richtung Süden zu fliehen, hieß es.

Bericht: Hamas plante gezielte Angriffe auf Schulen

Am Samstag berichteten mehrere Medien, darunter die „New York Times“, aber auch davon, wie die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel vergangene Woche ganz geplant und gezielt zivile Einrichtungen ins Visier genommen hatte. Laut den Berichten wurden bei getöteten Hamas-Kämpfern detaillierte Angriffspläne gefunden. Darin seien die Hamas-Kämpfer angewiesen worden, in einem Kibbutz Schulen und ein Jugendzentrum zu stürmen, um „so viele Menschen wie möglich zu töten“, Geiseln zu nehmen und sie schnell in den Gazastreifen zu bringen.

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In Tel Aviv checken Angehörige eine Tafel mit den gefangenen Geiseln
APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Über hundert Menschen wurden von der Hamas aus Israel entführt
Rauch und Explosionen über Gaza Stadt
APA/AFP/Aris Messinis
Die israelische Armee reagierte bisher in erster Linie mit Luftschlägen auf die verheerende Attacke der Hamas
Rettungskräfte suchen nach Überlebenden im Gazastreifen
AP/Hatem Ali
Viele Gebäude im Gazastreifen liegen inzwischen in Trümmern
Palästinenser an der Grenze zu Ägypten
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Viele Menschen hoffen auf eine Ausreise Richtung Ägypten – derzeit noch vergeblich
Lkw Konvoi bei der Grenze zum Gaza Streifen
Reuters/Amr Abdallah Dalsh
Der Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gazastreifen ist derzeit ebenfalls gänzlich gesperrt

Kein Strom, kein Wasser

Nach dem beispiellosen Massaker an israelischen Zivilisten durch Hamas-Kämpfer flog Israel in den vergangenen Tagen zum einen massive Angriffe auf Ziele im Gazastreifen, zum anderen verhängte es eine Totalblockade über den ohnehin schon weitgehend abgeschnittenen Küstenstreifen. Am Mittwoch musste das einzige Kraftwerk aufgrund von Treibstoffmangel seinen Betrieb einstellen. Die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas sind auf Notstromgeneratoren angewiesen. Auch das Trinkwasser im Gazastreifen wird knapp. Ohne Strom kann Wasser auch nicht in obere Geschoße gepumpt werden.

UNO-Nothilfekoordinator: Situation „rasch unhaltbar“

Am Samstag äußerte sich auch der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffith zur Lage im Gazastreifen. Diese werden derzeit „rasch unhaltbar“, so der Leiter des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in einer Erklärung. Im Gazastreifen gebe es keinen Strom, kein Wasser und keinen Treibstoff, und die Lebensmittel würden gefährlich knapp, sagte Griffiths.

Grafik zur Lage im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Er forderte alle Länder mit Einfluss auf, diesen zu nutzen, um die Einhaltung der Kriegsregeln zu gewährleisten und eine weitere Eskalation zu vermeiden. Sowohl in den palästinensischen Gebieten als auch in Israel leide die Zivilbevölkerung seit einer Woche „unter völliger Angst und Verwüstung“, sagte Griffith. Er befürchte, dass das Schlimmste noch bevorstehe. „Die vergangene Woche war ein Test für die Menschlichkeit, und die Menschlichkeit hat versagt“, so der UNO-Beauftragte.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte unterdessen eine Verdreifachung der humanitären Hilfen für den Gazastreifen an. Die Hilfsgelder für das von der radikalislamischen Hamas kontrollierte Küstengebiet würden um 50 Millionen Euro auf insgesamt 75 Millionen Euro erhöht, sagte von der Leyen am Samstag nach einem Gespräch mit UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Die EU arbeite weiter mit den Vereinten Nationen, um sicherzustellen, dass die Hilfe auch bei den Bedürftigen ankomme.

Auch Grenzübergang nach Ägypten weiter geschlossen

Zurzeit scheitert die Einfuhr von Hilfsgütern allerdings an den weiterhin geschlossenen Grenzübergängen. Auch der Übergang Rafah an der Grenze zu Ägypten blieb am Samstag weiterhin geschlossen. Dort warteten auf der palästinensischen Seite inzwischen auch zahlreiche internationale Staatsangehörige auf eine mögliche Ausreise. Unter anderem die USA hatten ihre Staatsangehörigen im Gazastreifen aufgefordert, sich nach Rafah zu begeben. Es könne sein, dass der Grenzübergang eher kurzfristig und nur für eine begrenzte Zeit für Ausländer geöffnet werde. Im Laufe des Samstags kam es dazu aber noch nicht.