Rauch steigt aus der Stadt Nablus im Westjordanland auf
APA/AFP/Zain Jaafar
Gewalt in Nahost

Sorge vor weiterer Eskalation

Seit dem Terrorangriff von Hamas-Kämpfern auf Israel schaut die Welt einmal mehr mit Sorge auf den Nahen Osten – und vor allem den von der Hamas beherrschten Gazastreifen. Zugleich wächst die Sorge, dass der Krieg zwischen Israel und der Hamas weiter um sich greifen könnte. Die ohnehin angespannte Situation an der israelisch-libanesischen Grenze und im von Israel besetzten Westjordanland verschärfte sich zuletzt zunehmend. Eine weitere Eskalation der Gewalt wird befürchtet.

Der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit liegt derzeit naturgemäß auf den Entwicklungen im und um den Gazastreifen. Zugleich verschärft sich die aber ohnehin schon angespannte Situation auch im Norden und Osten Israels. Seit Tagen liefert die libanesische Hisbollah der israelischen Armee Scharmützel an der israelisch-libanesischen Grenze.

Am Sonntag erklärte Israel einen vier Kilometer breiten Streifen im Grenzgebiet zum Libanon zur Sperrzone. Es sei verboten, diese Zone zu betreten, teilte die israelische Armee am Sonntag mit. Dort wohnende Zivilisten „in bis zu zwei Kilometer Entfernung von der Grenze sind angewiesen, sich in der Nähe von Schutzräumen aufzuhalten“, hieß es weiter. Zugleich werden laut Armee wie auch an der Grenze zum Gazastreifen GPS-Signale unterbrochen.

Israelische Panzer sind an der Grenze zum Libanon stationiert
APA/AFP/Jalaa Marey
Israelische Panzer an der Grenze zum Libanon

Zuvor war bei einem neuen Angriff der Hisbollah-Miliz auf Israel nach Angaben von israelischen Sanitätern ein Zivilist getötet worden. Drei weitere Männer seien verletzt worden. Die Hisbollah erklärte, sie habe eine Rakete auf israelische Stellungen nahe der Demarkationslinie abgefeuert. Aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß es, die israelische Armee habe mit Artilleriebeschuss geantwortet.

El-Gawhary (ORF) zur Lage im Libanon

Die Lage im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon ist angespannt. Nachdem sich die Hisbollah und die israelische Armee auch an der israelisch-libanesischen Grenze auch am Samstag beschossen haben, wächst auch dort die Sorge vor einem Krieg, wie ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary berichtet.

Anschließend wurden nach israelischen Militärangaben Soldaten im israelischen Grenzgebiet vom Libanon aus mit Panzerabwehrraketen attackiert. Die israelische Armee habe daraufhin Hisbollah-Ziele angegriffen. Laut Hisbollah handelte es sich bei dem Angriff der Miliz um eine Vergeltung für den israelischen Beschuss vom Freitag, bei dem ein Pressefotograf getötet worden war.

Israelische Warnung an Hisbollah

Laut der israelischen Armee wird der Vorfall vom Freitag noch untersucht. Zugleich warnte der israelische Armeesprecher Richard Hecht am Sonntag, die Hisbollah müsse „sehr vorsichtig sein“ und solle „den Libanon nicht da hineinziehen“. Das wäre „eine sehr schlechte Entscheidung“, betonte er. „Es würde den Libanon in eine Katastrophe stürzen.“

Schiitenmiliz vom Iran finanziert

Sollte die Hisbollah tatsächlich im großen Stil in den Krieg zwischen der Hamas und Israel eingreifen, könnte das weitreichende Folgen haben. Die Hisbollah gilt als deutlich schlagkräftiger als die Hamas. Seit dem letzten Krieg mit Israel 2006 hat sie ihre Fähigkeiten stark ausgebaut. Nach neuesten Schätzungen der israelischen Armee verfügt die Organisation über ein Arsenal von mehr als 100.000 Raketen.

Der Iran als Verbündeter und wichtigster Finanzier der Schiitenmiliz hatte Israel schon am Vortag vor einem „Erdbeben gegen die Zionisten“ gewarnt. Am Sonntag wiederholte der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian die Drohungen. Bei einem Einmarsch Israels in den Gazastreifen könne niemand garantieren, dass sich der Konflikt nicht ausweite.

Zweite Front für israelische Armee

Dass sich die Hisbollah mit ihren Truppen im großen Stil an dem Konflikt beteiligt, hielt der Militäranalyst Franz-Stefan Gady am Samstag allerdings derzeit für wenig wahrscheinlich. Wäre die Miliz daran interessiert, hätte sie sich wohl schon zu Beginn des Hamas-Angriffes auf Israel beteiligt, sagte Gady in der ZIB2. Sehr wohl hielt er es aber für möglich, dass die Hisbollah ihre Rakentangriffe auf Israel intensiviert. Die israelische Armee würde damit teilweise auch an dieser Front gebunden bleiben.

Analyse: Mehrfrontenkrieg mit Hisbollah?

Immer wieder kommt es zu Gefechten zwischen Israel und der Terroreinheit Hisbollah im Südlibanon. Wird es zu einem Mehrfrontenkrieg für Israel kommen? Dazu war Militärexperte Franz-Stefan Gady am Samstag im ZIB2-Studio.

Das Weiße Haus wollte am Sonntag ein direktes Eingreifen des Iran nicht ausschließen. Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, sprach im US-Sender CBS über eine mögliche neue Front an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon und fügte hinzu: „Wir können nicht ausschließen, dass der Iran sich auf irgendeine Weise direkt einmischen wird.“

Prekäre Lage im Westjordanland

Die – auch internationale – Sorge vor einer Eskalation der Gewalt beschränkt sich aber nicht allein auf den Libanon. Auch im von Israel besetzten Westjordanland verschärfte sich die ohnehin angespannte Lage zunehmend. Dort kamen laut den jüngsten Zahlen von palästinensischer Seite 54 Menschen ums Leben, 1.100 wurden verletzt. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel häufen sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen. Unter den Toten sollen sich laut palästinensischen Angaben auch Kinder befinden.

Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte in der Stadt Nablus im Westjordanland
APA/AFP/Zain Jaafar
Zusammenstöße zwischen Palästinensern und der israelischen Armee im Westjordanland häuften sich zuletzt

Dabei kommt es sowohl zu Zusammenstößen von Palästinensern mit der israelischen Armee als auch mit israelischen Siedlern. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem verbreitete ein Video von einem tödlichen Zwischenfall vergangene Woche im Dorf al-Tuwani südlich von Hebron. Auf der Aufnahme ist zu sehen, wie ein Siedler einen Palästinenser aus nächster Nähe erschießt, während ein israelischer Soldat in der Nähe steht. Auf einer anderen von B’Tselem verbreiteten Aufnahme ist ein Angriff israelischer Siedler auf die palästinensische Siedlung Kusla zu sehen.

Sturmgewehre an Siedler

Laut einer Reportage des „Guardian“ aus dem Westjordanland wächst unter vielen Palästinensern die Unzufriedenheit mit der palästinensischen Autonomiebehörde und ihrem Präsidenten Mahmud Abbas – und damit auch die Gefahr einer weiteren Eskalation der Gewalt.

Wenig hilfreich erscheint unter diesen Voraussetzungen auch die Ankündigung des israelischen Ministers für öffentliche Sicherheit, Itamar Ben Gvir, von der rechtsextremen Partei Ozma Jehudit. Er versprach vergangene Woche insgesamt 10.000 Sturmgewehre anzuschaffen und im Westjordanland an israelische Bewohner verteilen zu lassen. 4.000 davon sollen bereits in der vergangenen Woche ausgeteilt worden sein.

Warnung vor Flächenbrand

International wird befürchtet, dass eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen auch die Gewalt im Westjordanland noch einmal stark anfachen könnte. Erst am Sonntag warnte der britische Außenminister James Cleverly davor, dass die Hamas mit ihrem Terrorangriff auf Israel einen Flächenbrand auslösen wolle. Es sei in Israels eigenem Interesse, bei der bevorstehenden Invasion des Gazastreifens zivile palästinensische Opfer zu vermeiden, sagte Cleverly dem Sender Sky News. Auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) warnte am Samstag vor einem Flächenbrand. Ähnlich formulierte es der deutsche Kanzler Olaf Scholz nach einem Telefonat mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu.

Ein Ausdruck der Sorge sind auch die zahlreichen neuen Reisewarnungen, die Länder zuletzt für die Region erließen. Österreich sprach eine solche in der Nacht auf Sonntag für all jene Teile Israels aus, die an den Gazastreifen, den Libanon und Syrien grenzen. Auch das deutsche Außenministerium warnte vor Reisen nach Israel. Das gelte auch für die gesamten palästinensischen Gebiete und den Libanon, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Sonntag in Berlin mit.