Der ägyptische Präsident Abdel Fatah El-Sisi
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Vermittler im Nahost-Krieg

Rolle Ägyptens auf dem Prüfstand

Seit dem überraschenden Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober gerät Ägypten in dem Konflikt nicht zuletzt wegen des Rafah-Grenzübergangs zunehmend in den Fokus. Das Land gilt traditionell als Vermittler im Nahost-Konflikt, hatte es doch 1979 als erster arabischer Staat Frieden mit Israel geschlossen. Die aktuellen Entwicklungen stellen die Rolle des Landes, das derzeit mit eigenen Problemen kämpft, jedoch auf eine Probe.

In seiner Rede bei einer militärischen Abschlussfeier kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel verglich der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi die Situation in seinem Land mit einem Haus in einer brennenden Nachbarschaft. Ägypten werde seinen palästinensischen Nachbarn helfen und man stelle sicher, dass humanitäre oder medizinische Hilfe über den Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen gelange. Allerdings gebe es Grenzen, stellte Sisi klar.

Der Gazastreifen

Jahrhundertelang stand der Küstenstreifen unter osmanischer Herrschaft. Im Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Kontrolle, Ägypten sicherte sich den Streifen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Israel eroberte das Küstengebiet im Sechstagekrieg 1967 und zog sich 2005 daraus zurück. Seitdem kontrolliert Israel die Außengrenzen. Die Hamas gewann 2006 die Wahl und sieht sich seither als legitime Regierungsmacht.

„Natürlich haben wir Mitgefühl. Aber Vorsicht, während wir mitfühlen, müssen wir immer unseren Verstand benutzen, um Frieden und Sicherheit auf eine Weise zu erreichen, die uns nicht viel kostet.“ Ägypten beherberge bereits neun Millionen Migrantinnen und Migranten. Zudem sei es wichtig, dass das palästinensische Volk auf seinem Land standhaft bleibe, so das Argument. Würden die Palästinenser und Palästinenserinnen den Gazastreifen verlassen, bestehe die Gefahr, dass Israel ihn einnehme.

Am Mittwoch wies Sisi darauf hin, dass sich die Entwicklung im Nahen Osten nicht mehr kontrollieren ließe, wenn die Kämpfe zwischen Israel und Hamas weitergingen. Es sei nicht auszuschließen, dass sich die Auseinandersetzungen ausweiten, sagte er. Zudem warnte er davor, dass es keine Massenflucht der Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Ägypten oder Jordanien geben dürfe.

Sowohl Grenzschützer als auch Vermittler

In der Vergangenheit waren bereits mehrmals Zehntausende Palästinenser von Gaza nach Ägypten gekommen. Einen weiteren Zuzug will das wirtschaftlich stark angeschlagene Land nun aber verhindern – rund 70 Prozent der Bevölkerung sind entweder arm oder von Armut bedroht.

Obwohl es bereits mehrmals behauptete, die Grenze nach Rafah sei offen, wurde sie durch mehrere israelische Luftangriffe auf der Gaza-Seite de facto geschlossen. Rund 2.000 Tonnen Güter standen zuletzt nach Angaben des Ägyptischen Roten Halbmonds bereit. Etwa 150 Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern seien von al-Arisch auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel in Richtung des Grenzübergangs Rafah unterwegs, sagten Augenzeugen der dpa.

Ägyptens aktuelles Vorgehen erinnere an seine einzigartig heikle Rolle im Gazastreifen – einerseits als Grenzschützer, andererseits als Vermittler, schreibt die „New York Times“ („NYT“). Man wolle nicht Gefahr laufen, in die Geschehnisse hineingezogen und De-facto-Verwalter des Gazastreifens zu werden.

Die ägyptische Zentralbank
Reuters/Amr Abdallah Dalsh
Auch wegen der schlechten Wirtschaftslage sorgt man sich in Ägypten vor einer Grenzöffnung

Zudem stünden Sisis enge Beziehungen zu Israel und den USA im Widerspruch zu den propalästinensischen Ansichten seines eigenen Volkes. So ergab eine Meinungsumfrage des ägyptischen Zentrums für Meinungsforschung, dass 82 Prozent der Befragten der Meinung sind, die Palästinenser hätten das Recht, auf israelische Angriffe mit Gewalt zu reagieren. Um diese Spannungen zu überbrücken, setze Sisi nun einmal mehr auf seine Rolle als Vermittler in dem Konflikt.

Sorge vor Extremismus

Aber auch die Sorge vor Terroristen aus Gaza steckt hinter dem aktuellen Vorgehen Ägyptens. Seit Jahren hat die ägyptische Armee Schwierigkeiten, den Norden der Sinai-Halbinsel zu kontrollieren, die als Rückzugsgebiet militanter Islamisten gilt. „In den Tunneln nach Gaza wurden Waffen geschmuggelt, und Ägypten hat immer Angst, dass Bewaffnete diese Tunnel nutzen, um gegen die ägyptische Armee zu kämpfen“, zitiert die ARD-„Tagesschau“ Murad Hegasi von der ägyptischen Zeitung „Mada Masr“.

Hilfslieferung für Gaza am Sinai
APA/AFP/Ali Moustafa
Hilfslieferung für Gaza am Sinai

Und auch einen Einzug der Hamas, die als Ableger der in Ägypten verbotenen Muslimbruderschaft gilt, will man verhindern. Auch wenn sich die Hamas von der Muslimbruderschaft distanzierte und sich Ägypten seit einiger Zeit mit der Hamas arrangiert habe, bestehe „ganz klar die Befürchtung, dass extremistische Akteure nach Ägypten kommen“, sagte Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik gegenüber der „Tagesschau“.

Bei einer Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch sprach sich Sisi erneut gegen die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aus. „Die Idee, die Menschen aus Gaza nach Ägypten (…) zu vertreiben, ist nicht umsetzbar, und wir warnen vor den damit verbundenen Risiken.“ Die Sinai-Halbinsel könnte in dem Fall Ausgangspunkt für Angriffe militanter Palästinenser auf Israel werden, für die dann Ägypten verantwortlich gemacht werden könnte. Sisi sagte, sollte es die Idee geben, Palästinenser zu vertreiben, „dann gibt es die Negev-Wüste“ im Süden Israels.

Zivilisten als „politischer Spielball“

Zahlreiche politische Akteure etwa aus den USA und Deutschland versuchen nun, Ägypten in der Flüchtlingsfrage zu einem Umdenken zu bewegen. Am Ende dürfte es dabei aber auch darum gehen, was Ägypten im Gegenzug angeboten wird. „Ich denke, dass hier momentan ein Stück weit über den Preis verhandelt wird“, so Roll gegenüber der „Tagesschau“. „Ägypten steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand, steckt in einer schweren Schuldenkrise, ist auf jeden Dollar angewiesen. Insofern denke ich, dass hier gerade verhandelt, wenn nicht gar gepokert wird.“

Warten auf Grenzöffnung durch Ägypten

Viele Menschen aus dem Gazastreifen haben sich auf dem Weg zum Rafah-Grenzübergang gemacht, um nach Ägypten auszureisen. Allerdings ist die Grenze weiterhin geschlossen.

Dass knapp zwei Millionen Menschen von allen Seiten als politischer Spielball benutzt würden, sei in jedem Fall zynisch, so Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Interessen des jeweiligen Landes gingen stets über humanitäre Interessen. „Hier sitzen Millionen von Menschen, die berechtigt eine sehr große Angst haben.“

Ende der Woche wird Ägypten ein Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs ausrichten, um über den Konflikt zwischen Israel und der Hamas zu beraten. Sollte die bereits angekündigte israelische Bodenoffensive tatsächlich beginnen, werde Ägypten unter internationalem Druck möglicherweise doch noch die Grenzen öffnen und den Bau von UNO-Flüchtlingslagern in Sinai erlauben müssen, so die Einschätzung der „Stuttgarter Zeitung“. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat für einen solchen Fall bereits Unterstützung zugesagt.