Demonstranten in Tel Aviv
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Netanjahu unter Druck

Israel zwischen Bitternis und Schulterschluss

Der Schock der Israelis nach dem Terrorüberfall der Hamas sitzt tief. Das zuvor innenpolitisch schwer gespaltene Land steht nun dem äußeren Feind geeint gegenüber. Doch der Groll über das Versagen der Geheimdienste und die ahnungslose Politik wird darüber hinaus bestehen bleiben. Die Unzufriedenheit über Israels Premier Benjamin Netanjahu und seine rechts-religiöse Regierung ist enorm.

In den Sondersendungen im israelischen Fernsehen sind derzeit oft Aufrufe zum Zusammenhalt zu vernehmen. Slogans wie „Zusammen siegen wir“ und „gemeinsam sind wir stark“ werden gesendet. Die Menschen spenden Lebensmittel an Soldaten und medizinisches Personal, bieten ihre Häuser Vertriebenen an.

Familien, deren Angehörige als Geiseln entführt wurden, gründeten Organisationen und helfen einander. Viele Israelis kehrten aus dem Ausland zurück, um den Militäreinsatz zu unterstützen. Die Solidarität ist groß, Schock und Trauer werden geteilt. Israel ist geeint im Entschluss, die Hamas zu zerstören.

Historischer Einschnitt verändert Sichtweise

Bei dem Überfall am 7. Oktober kamen mehr als 1.300 Israelis an einem Tag ums Leben, für das Land stellt der Tag eine Zäsur dar. Das Vertrauen, das bis dahin in das Engagement der Politik bei der Verteidigung der Bevölkerung und die Überlegenheit der Armee herrschte, ist dahin. Die mit Milliarden errichtete Verteidigungsinfrastruktur des Landes hatte versagt, bis das Militär verängstigten Bürgerinnen und Bürgern im Süden Israels half, dauerte es Stunden. Tage brauchte es, bis Angehörige von Verschleppten Ansprechpartner in der Verwaltung bekamen.

Die rechts-religiöse Regierung unter Netanjahu hatte vor dem Terrorüberfall das Land gespalten. Der drastische Justizumbau mit der Entmachtung von Höchstrichterinnen und -richtern hatte zu monatelangen Massenprotesten geführt.

Nach den Gräueln der Hamas formte Netanjahu eine Notstandsregierung, dem „Kriegskabinett“ gehören Netanjahu, dessen politischer Rivale Benni Ganz und Verteidigungsminister Joav Galant an. Netanjahu stimmte zu, den Justizumbau auf Eis zu legen, „während des Krieges“ sollen keine Gesetze oder Regierungsvorlagen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, vorangetrieben werden.

Benny Gantz und Benjamin Netanyahu
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Benni Ganz und Benjamin Netanjahu: Derzeit vereint im Kriegskabinett

Das kann kaum hinwegtäuschen über das Versagen der Geheimdienste unter Netanjahus Ägide. Hinweise und Warnungen wurden zu wenig ernst genommen oder fehlgedeutet. Am Montag hatte selbst der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet die Verantwortung dafür übernommen, dass der Angriff der Hamas nicht verhindert wurde. „Als Leiter der Organisation liegt die Verantwortung bei mir“, so Ronen Bar.

Doch liegt sie in den Augen vieler auch bei Netanjahu. Israels früherer Premier Ehud Barak etwa sagte dem „Spiegel“: „Netanjahu trägt persönlich die Verantwortung für das größte Versagen in der Geschichte Israels“. Er habe trotz Warnungen seine Justizreform vorangetrieben, die Israel gespaltet und geschwächt habe. „Die Person, die alles zerstört hat, kann es nicht reparieren“, so Barak.

„Wer hat das zugelassen?“

Auch viele andere teilen diese Ansicht. „Für einen Israeli ist der eigentliche Kern der Frage: Wer hat das zugelassen? Trotz der damit verbundenen Qual müssen wir eine gesamtstaatliche Rechenschaft darüber fordern, was die militärische Katastrophe möglich gemacht hat: die Hybris und Selbstgefälligkeit und vor allem die Wahnvorstellungen von Premierminister Benjamin Netanjahu und seiner Regierung“, so der israelische Journalist Gerschom Gorenberg in einem Kommentar in der „New York Times“.

Diese Verschiebung spiegelt sich auch in Netanjahus Umfragewerten wider. Eine von der Zeitung „Maariw“ veröffentlichte Erhebung zeigt, dass ihm 80 Prozent der am Mittwoch und Donnerstag befragten 510 Befragten die Verantwortung dafür zuteilen, dass Israel nicht vorbereitet war. Selbst in den Reihen von Netanjahus Likud-Partei sind 69 Prozent der Meinung, Netanjahu müsse die Verantwortung übernehmen. 48 Prozent sind der Meinung, dass der Oppositionspolitiker und frühere Verteidigungsminister Benni Ganz ein besserer Regierungschef wäre. Nur 28 Prozent halten Netanjahu für die bessere Wahl.

Grafik zur territorialen Entwicklung Israels seit 1947
Grafik: APA/ORF

Kurz zuvor zeigte eine Umfrage von Camil Fuchs, einem Statistiker der Universität Tel Aviv, dass unter 620 jüdischen Israelis 95 Prozent den Hamas-Angriff als Folge von Regierungsversagen ansehen. Selbst bei jenen, die Parteien seiner rechten Koalition gewählt hatten, lag dieser Anteil bei 93 Prozent. Drei Viertel waren der Ansicht, Netanjahu sollte zurücktreten, wenn die aktuellen Kampfhandlungen überstanden sind, wie der „Economist“ meldete.

Wut auf Netanjahu

Der Verlust von Unterstützung zeigt sich auch auf den Straßen: In Tel Aviv versammelten sich am Samstag Hunderte Demonstrierende vor dem Verteidigungsministerium, um die Rückkehr der Geiseln sowie Netanjahus Rücktritt zu fordern. Sie riefen auf Hebräisch „Schande“ und hielten Schilder hoch, manche mit Fotos von Geiseln, manche mit Parolen wie „Bibi, an deinen Händen klebt Blut“. Viele halten seither dort weiterhin Mahnwache, verteilen Flugblätter und sammeln Unterschriften.

„Diese Regierung hat auf kolossale Weise versagt, es ist unerträglich“, so Mona Hanoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Ihre Wut richte sich dezidiert gegen Netanjahu. „Ihm habe ich das Leben meiner Kinder anvertraut“, so Hanoch, die vor 15 Jahren aus den USA nach Israel zog. „Ich kann es nicht hinnehmen, dass ein Mann, gegen den drei Korruptionsprozesse laufen, die Staatsgeschäfte führt. Unser Land wurde von einer illegitimen Regierung gekidnappt. Ich werde nicht ruhen, bis Netanjahu weg ist“, so ein anderer Demonstrant.

Schulterschluss, aber nicht für Regierung

Auch wenn Netanjahu derzeit so abgeschrieben ist wie nie zuvor, hinter der Militäroffensive gegen die Hamas steht die Bevölkerung. Gingen während der Militäroperation in Gaza 2014 manche noch lieber ins Gefängnis, statt im Militär zu dienen, melden sich nun viele Freiwillige. „Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden gibt, der sich jetzt aus ideologischen Gründen weigert zu gehen“, sagte der freiwillige Reservist Bension Sanders zur „Times of Israel“.

Auch jene Reservisten, die Anfang des Jahres erklärt hatten, wegen des Justizumbaus den Dienst zu verweigern, legten ihren Protest nun auf Eis. „Wir dienen nicht Netanjahu. Wir dienen dem Land“, wurde der frühere Kampfsoldat Josh Drill zitiert. Die Protestbewegung werde sich künftig ändern müssen und die Grenze zwischen Kritik an Netanjahu und Unterstützung der Offensive ziehen.

Sieg oder Pyrrhussieg

Der israelische Journalist Gil Jaron, Leiter des Büros des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Jugend und Kultur in Israel, sah im Gespräch mit ORF.at auch einen Schulterschluss in der Gesellschaft – nicht für Netanjahu, sondern für Israel. Viele seien der Meinung, dass nun noch nicht die Zeit sei, politische Fehler aufzuarbeiten. „Auch wenn Netanjahus Likud in den Umfragen in den Keller rutschte, ob das anhält, hängt vom Kriegsverlauf ab“, so Jaron. Das Schicksal der Geiseln, der Zustand des Landes nach den aktuellen Kampfhandlungen, ob es ein Sieg Israels oder ein Pyrrhussieg werde, entscheide auch Netanjahus Zukunft.

Und dieser erkannte schnell, dass nun die Rolle eines Krisenmanagers gefragt ist. Er zeigte sich mit Soldaten, stellte das Kriegskabinett zusammen und kündigte die Bodenoffensive an. Große Kriege waren nicht seine Sache – bisher.

Vor dem 7. Oktober setzte er auf eine Strategie des Eindämmens von Konflikten, auch wenn er sich martialisch präsentierte. Wiederholte Bombardements des Gazastreifens und taktische Schläge sollten Hamas und Palästinenser unter Kontrolle halten, eine dauerhafte politische Lösung wurde nicht angestrebt. Mit den arabischen Nachbarn sollten dafür die Beziehungen normalisiert werden – eine Strategie, die aus heutiger Sicht nicht aufging.

Vergleich mit Golda Meir

Eine öffentliche Untersuchung der geheimdienstlichen Versäumnisse steht dem Premier früher oder später bevor.

Die ehemalige israelische Premierministerin Golda Meir
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Golda Meir

„Für Netanjahu könnte das Führen eines erfolgreichen Krieges, so schwierig er auch sein mag, eine der wenigen politischen Lebensadern sein, die ihm noch verbleiben“, so Daniel Levy, der Präsident des Thinktanks U.S./Middle East Project, zur „New York Times“.

Auch Jaron meint, viele Israelis machen Netanjahu für das Versagen der Verteidigung verantwortlich. Seine Politik der kleinen Schritte werde nun als Irrweg bewertet, israelische Kommentatoren verglichen Netanjahu mit Golda Meir, zwischen 1969 und 1974 Ministerpräsidentin Israels. In ihre Amtszeit fiel der überraschende Jom-Kipppur-Krieg, auch sie hatte Warnungen in den Wind geschlagen. Der Unterschied aber sei, so Jaron: Meir habe Fehler rasch eingestanden, Netanjahu nicht.

Dieser habe Untersuchungen angekündigt, signalisiere also, dass er künftig einer Regierung vorstehen wolle, die die eigenen Fehler analysieren solle. „Ich denke nicht, dass die Israelis damit einverstanden sein werden“, so Jaron. Aber der Premier habe schon viele Neuwahlforderungen ignoriert. „Und bei Netanjahu haben sich auch die Kommentatoren schon oft geirrt.“