Zerstörte Gegend um das Al-Ahli Spital
Reuters
Spitalsbeschuss in Gaza

Ungeklärter Vorfall, bedrohliche Folgen

Der Beschuss einer Klinik in Gaza-Stadt nährt die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges in Nahost. Die islamistische Hamas und einige Nachbarstaaten hatten umgehend Israel verantwortlich gemacht. Israel wies das entschieden zurück und sprach vom Einschlag einer verirrten Rakete der Terrororganisation Islamischer Dschihad in Palästina. Die USA stellten sich auf Basis eigener Erkenntnisse hinter Israel. In einigen Staaten der Region kam es zu neuen Massenprotesten.

Die Explosion ereignete sich Dienstag um 18.59 Uhr (Ortszeit) auf dem Gelände des Al-Ahli-Spitals in Gaza-Stadt. Neben Patientinnen und Patienten und Beschäftigten der einzigen christlichen Klinik in Gaza hielten sich zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Menschen in dem Areal auf, die vor Luftangriffen der israelischen Armee geflohen waren. Israel führt im Gazastreifen seit Tagen Vergeltungsschläge als Reaktion auf den terroristischen Großangriff der Hamas am 7. Oktober durch, bei dem 1.400 Menschen in Israel ermordet wurden.

Wie viele Menschen bei der Explosion auf dem Spitalsgelände umkamen, war zunächst unklar. Behörden in Gaza sprachen erst von 200 bis 300, später von 500 Toten. Mittwochnachmittag gab das der Hamas-Regierung unterstehende Gesundheitsministerium erstmals eine offizielle Zahl bekannt: Demnach forderte die Explosion 471 Menschenleben, 324 Personen wurden verletzt.

Zweifel an Opferzahl

Es gibt allerdings Zweifel an dieser Darstellung. Eine europäische Geheimdienstquelle sprach am Mittwoch davon, dass es aufgrund der Aufnahmen wohl eher Dutzende als Hunderte Opfer geben dürfte. „Es gibt nicht 200 oder gar 500 Tote, sondern eher ein paar Dutzend, wahrscheinlich zwischen zehn und 50“, sagte die anonyme Quelle laut der Nachrichtenagentur AFP.

Sie verwies darauf, dass das Gebäude nicht zerstört worden sei. Das Krankenhaus sei wahrscheinlich zuvor evakuiert worden, wie eine ganze Reihe von Krankenhäusern im nördlichen Gazastreifen, nachdem die israelische Armee das angeordnet hatte. Dafür, dass sich Hunderte Menschen auf dem Parkplatz davor befunden hätten, gebe es „keine Beweise“.

Unklarheiten nach Krankenhausexplosion

Rund 24 Stunden nach der verheerenden Explosion des Krankenhauses in Gaza-Stadt ist sehr viel von dem Angriff zweifelhaft. Es hat eine Explosion beim Krankenhaus gegeben, doch die Opferzahl ist ebenso unklar wie die Ursache. Laut israelischem Militär handle es sich um eine abgestürzte Rakete aus Gaza selbst. Das würden auch US-Informationen bestätigen, sagt US-Präsident Biden bei seinem Besuch in Israel.

Autonomiebehörde will IStGH-Untersuchung

Bereits unmittelbar nach der Explosion warf die Hamas Israel vor, das Krankenhaus bei einem Luftschlag getroffen zu haben. Schuldzuweisungen kamen rasch auch aus anderen Ländern der Region – vom Iran, einem der Hauptunterstützer der Hamas, bis hin zu Saudi-Arabien und der Türkei, die sich zuletzt um eine Verbesserung der Beziehungen mit Israel bemühten.

Jordanien sagte einen mit US-Präsident Joe Biden geplanten Vierergipfel ab. Die im Westjordanland herrschende palästinensische Autonomiebehörde beantragte ihrerseits eine Untersuchung des Vorfalls durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).

Israels Militär veröffentlicht Video- und Audioaufnahmen

Israel dagegen machte die Terrorgruppe Islamischer Dschihad für den Einschlag verantwortlich – es habe sich um einen gescheiterten Raketenabschuss der Militanten gehandelt. Man habe Informationen, die stark darauf hinweisen würden, „dass die Zahl der tragischen Todesfälle durch eine fehlgeleitete Rakete“ übertrieben wurde, teilte ein Armeesprecher am Donnerstag mit.

Um 18.59 Uhr habe der Islamische Dschihad eine „Barrage von etwa zehn Raketen“ von einem Friedhof in der Nähe des Spitals abgefeuert, sagte Armeesprecher Daniel Hagari. Die Auswertung von Luftaufnahmen der israelischen Armee zeige „mit absoluter Sicherheit“, dass die Explosion durch die Fehlzündung einer der Raketen ausgelöst worden sei, so Hagari weiter.

Auf einem Parkplatz neben der Klinik seien Zerstörungen vor allem durch eine sehr große Menge an Raketenantriebsmittel (Propellant) zu erklären, sagte Hagari. „Der Treibstoff hat eine größere Explosion ausgelöst als der Sprengkopf selbst.“ Es gebe auch keine typischen Zerstörungen an den umliegenden Gebäuden oder einen Krater wie nach einem israelischen Luftangriff, betonte Hagari. In den vergangenen elf Tagen sind nach Angaben des israelischen Heeres rund 450 in Gaza abgefeuerte Raketen im Gazastreifen niedergegangen.

Publik gemacht wurde am Mittwoch zudem ein abgefangenes Telefonat, in dem sich laut israelischer Armee zwei „Hamas-Terroristen“ über die Herkunft der Rakete unterhalten. Auf die Frage „Ist sie von uns?“ antwortet der andere Mann: „Es sieht ganz danach aus.“ Die israelische Botschaft in Berlin hat die Aufnahme mit deutschen Untertiteln auf Twitter (X) veröffentlicht. Ihre Authentizität lässt sich nicht bestätigen.

Einige Analysten halten Darstellung für plausibel

Einige Analysten halten die Darstellung der israelischen Armee für plausibel. Auf sozialen Netzwerken kursieren mehrere Aufnahmen von Dienstagabend. In einem Video ist zu sehen, wie eine Rakete in der Luft in zwei Teile zerfällt. Ein Teil explodiert in einiger Entfernung zum Spital, der andere verursacht eine Explosion auf dem Gelände der Al-Ahli-Klinik. Was die Echtheit der Bilder betrifft, verwies der dänische Experte Oliver Alexander auf die auffällige Photovoltaikanlage auf dem Dach des Spitals, deren Umrisse im Schein des Feuers erkennbar sind.

Die Angabe der Armee, dass der Parkplatz der Klinik getroffen worden sei, deckt sich mit Aufnahmen in sozialen Netzwerken. Auch auf Fotos und Videos am Tag nach der Explosion sind verstreute Habseligkeiten und ausgebrannte Autos zu sehen. Fachleute verweisen weiters auf das Fehlen eines großen Bombenkraters, der typisch sei für die Munition von Israels Luftstreitkräften.

„Wenn dies das ganze Ausmaß des Schadens ist, dann würde ich sagen, dass ein Luftangriff weniger wahrscheinlich ist als ein Raketenfehler, der eine Explosion und einen Treibstoffbrand verursacht hat“, schrieb der Luftstreitkräfteexperte Justin Bronk vom Londoner Thinktank RUSI auf Twitter (X). Es sei allerdings schwierig, in so einem frühen Stadium sicher zu sein, so Bronk. Ähnlich äußerte sich der BBC gegenüber J Andres Gannon von der Vanderbilt University in den USA. Angesichts der offenbar kleinen Explosion sei die Hitzeentwicklung beim Aufprall wohl auf übrig gebliebenen Raketentreibstoff zurückzuführen.

Israel lässt Hilfslieferungen nach Gaza zu

Die Explosion auf dem Klinikgelände überschattete auch den Besuch von US-Präsident Biden in der Region. „Nach dem, was ich gesehen habe, sieht es so aus, als ob es vom anderen Team gemacht wurde, nicht von Ihnen“, sagte er bei einem Treffen mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der Nationale Sicherheitsrat (NSC) der USA äußerte sich ähnlich. Grundlage der Einschätzung sei die Auswertung von Luftaufnahmen, abgefangenen Informationen und öffentlich zugänglichen Quellen, sagte eine Sprecherin.

Cupal (ORF) zur aktuellen Lage in Nahost

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet live aus Israel. Er spricht über die verheerende Explosion in einem Krankenhaus in Gaza-Stadt, mögliche Hilfslieferungen aus Ägypten und gibt eine Einschätzung, ob Israel aktuell die geplante Bodenoffensive starten kann und wird.

Biden sicherte Netanjahu die Unterstützung seines Landes zu, mahnte aber zugleich zu einem maßvollen Vorgehen. Man solle nicht die „Fehler“ der USA nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 wiederholen, sagte Biden in Tel Aviv. Er kündigte „nie da gewesene Hilfen“ für Israel an. Es werde auch neue humanitäre Hilfen für die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland in Höhe von 100 Mio. Dollar (rund 95 Mio. Euro) geben.

Nach dem Treffen gab Netanjahus Büro bekannt, Hilfslieferung aus Ägypten in den Gazastreifen nicht mehr blockieren zu wollen. Israel werde dagegen nicht zulassen, dass humanitäre Hilfe von seinem Staatsgebiet aus in den Gazastreifen gelangt, solange die von der Hamas verschleppten Israelis nicht frei seien, hieß es in einer Mitteilung.

Neue Proteste in vielen Ländern

Nach ersten Protesten am Dienstagabend gingen auch am Mittwoch unter anderem im Libanon, im Jemen, in Jordanien, Tunesien, Syrien, dem Iran zahlreiche Menschen auf die Straße, ebenso im Westjordanland.

Unterstützer der Hisbollah protestieren in Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
Beirut: Tausende Menschen folgten einem Demonstrationsaufruf der Schiitenmiliz Hisbollah

Der UNO-Vermittler für den Nahen Osten sah unterdessen eine große Gefahr für eine Ausweitung des Kriegs in Nahost. „Aufgrund meiner Treffen und der Dynamik, die ich vor Ort beobachte, würde ich Folgendes sagen: Die Gefahr einer Ausweitung dieses Konflikts ist real – sehr, sehr real – und äußerst gefährlich“, sagte der UNO-Koordinator für den Friedensprozess im Nahen Osten, Tor Wennesland, am Mittwoch in New York.