Kerzen im Gedenken an die Opfer des Hamas-Terror
Reuters/Ammar Awad
Terror, Antisemitismus

Jüdisches Trauma wieder erwacht

„Ich glaube, weder die Menschen in Israel noch wir als Juden und Jüdinnen in Europa haben den 7. Oktober 2023 verarbeitet. An diesem Tag kam es zum größten Pogrom, zum größten Massenmord an Juden und Jüdinnen seit der Schoah.“ So fasste Bini Guttmann vom Exekutivrat des Jüdischen Weltkongresses das Trauma zusammen, das die Israelis und die jüdische Gemeinde weltweit nach dem Hamas-Terror ereilte – wieder einmal. ORF.at fragte Vertreterinnen der zweiten und dritten Post-Schoah-Generation in Wien nach ihren Empfindungen.

Der Großangriff der Terrororganisation Hamas auf Israel hat viele Menschen psychisch schwer belastet. Allen voran Jüdinnen und Juden leiden unter den Bildern und Videos, die über Medien und soziale Netzwerke kursieren. Vergangene Traumata, vom Holocaust bis zum Jom-Kippur-Krieg, erwachen wieder.

Wobei, hört man von Betroffenen, die Erschütterung selbst im Jom-Kippur-Krieg von 1973 nicht so tief ging wie jetzt. Ähnlich wie im Oktober versagte auch damals der Geheimdienst, doch blieb die Zivilbevölkerung weitgehend verschont. „Der Feind kam von außen und blieb außen vor – jetzt aber ist er, wenn Sie so wollen, bis in den Garten, ja bis in die Küche eingedrungen“, sagte der französische Intellektuelle Alain Finkielkraut, Sohn jüdischer Polen, gegenüber dem „Standard“. Die Mehrzahl der Opfer sind dieses Mal Zivilisten und Zivilistinnen.

Neue Welle des Antisemitismus

Die Erschütterung reicht weit über Israel hinaus, zeigt sich aber, je mehr Zeit nach dem Terrorangriff verstreicht, weniger in Mitgefühl und Solidarität, vielmehr greift die bei Eskalationen des Nahost-Konflikts häufig zu beobachtende Täter-Opfer-Umkehr wieder Platz. Antisemitische und terrorverherrlichende Taten und Worte beschränken sich nicht auf die islamische Welt, auch in europäischen Städten kam und kommt es zu zahlreichen propalästinensischen Demonstrationen. Teils verliefen sie friedlich, teils wurden unverhohlen die Gräueltaten der Hamas verherrlicht und Aufrufe zur Auslöschung Israels gemacht.

Die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt in alarmierendem Ausmaß, der deutsche Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang sprach dieser Tage im „Spiegel“ von einer „Zäsur“. Der Judenhass auf deutschen Straßen erinnere „an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte“, sagte Haldenwang, er befürchte, „dass uns diese neue Welle des Antisemitismus noch länger beschäftigen wird“. Und: „Wir müssen damit rechnen, dass gezielt Gewalt gegen Jüdinnen und Juden verübt werden könnte.“ Ähnliche Warnungen waren zuletzt aus Frankreich zu vernehmen.

Gefühl der Sicherheit verschwunden

Seit dem Hamas-Angriff hätten sich die antisemitischen Vorfälle verdreifacht, berichtete kürzlich auch die Antisemitismusmeldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Der 7. Oktober brachte einen „Paradigmenwechsel“ für die in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden, „was unser Selbstverständnis betrifft, hier in Sicherheit leben zu können“, sagte der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister gegenüber Puls 24. Diese Empfindung teilen zwei von ORF.at befragte Vertreterinnen der zweiten und dritten Generation in Wien, Mutter und Tochter, Journalistin und Psychologin (Namen der Redaktion bekannt, Anm.).

Pro-Palestina-Demonstration in Wien
Reuters/Leonhard Foeger
Propalästinensische Demonstrationen finden derzeit auch in Wien statt – Hamas-Verherrlichung inklusive

„Ununterbrochene Nabelschnur“ zu Israel

Für die in der jüdischen Gemeinde aktiv tätige 74-Jährige brachte der 7. Oktober zwei schmerzliche Erkenntnisse. Jener Staat, der geschaffen worden war, um die Verfolgungen und das Leid der Juden zu beenden, der jederzeit als Refugium für die Diaspora dienen sollte und zu dem es „eine ununterbrochene Nabelschnur“ gäbe, sei kein sicherer Platz mehr. Im Gegenteil, dieser Tage biete man Freunden und Verwandten in Israel an, Sicherheit im Ursprungsort des Nazismus zu suchen.

Die zweite Erkenntnis: Als Jüdin in der Diaspora gehöre man doch nicht wirklich zu dem Staat, in dem man lebe. Vor dem Terrorangriff habe man sich sicher gefühlt, alarmiert zwar, wenn Israel angegriffen wurde, aber persönlich nicht direkt betroffen. Das habe sich nun geändert – der deutsch-französische Publizist und Politiker Daniel Cohn-Bendit habe ihr dabei jüngst aus der Seele gesprochen.

„Was am 7. Oktober passiert ist, ist für jeden Juden eine existenzielle Erfahrung und Bedrohung. An diesem Tag waren wir, ob säkular oder religiös, alle einfach nur Juden, die wussten, dass auch sie im Visier der Hamas und ähnlicher Organisationen stehen. Die Hamas spricht nie von Israelis, sondern immer nur von Juden. Von Juden in Israel und von Juden in der Welt“, sagte Cohn-Bendit gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“).

„In der DNA eingeschriebene Angst“

Dass nun auch im Westen „expressis verbis“ zu Gewalt gegen Juden aufgerufen werde, wecke alte Traumata, sagt die 74-Jährige. Die gleichsam „in der DNA eingeschriebene Angst“, dass wieder etwas wie der Holocaust passieren könnte, komme hoch. Diese „transgenerationale Traumatisierung“ ist auch ein Schwerpunkt der Arbeit von ESRA, einem psychosozialen Zentrum für die jüdische Bevölkerung Wiens, das in den vergangenen Wochen einen erheblichen Anstieg an Unterstützungsanfragen erhalten hat.

Gedenken an die Opfer des Hamas-Terror
AP/Mahmoud Illean
Bilder der Entführten erinnern in Jerusalem an die Gräuel des 7. Oktober

Sie sei, erzählt die Journalistin, derzeit hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, alle Nachrichten mitzuverfolgen, und dem nach Verdrängung. Angst habe sie vor allem um Kinder und Enkelkinder, aber auch davor – wie die erste Generation –, die „Zeichen der Zeit“ übersehen zu können. Sorge bereitet ihr, dass die importierte Judenfeindlichkeit von Migrantinnen und Migranten aus arabischen Ländern in Europa auf gut bereiteten Boden trifft: den autochthonen Antisemitismus, der nie verschwunden war.

In ständiger Alarmbereitschaft

Was ihre Mutter als in der jüdischen DNA festgeschriebene Angst bezeichnet, nimmt auch ihre 46-jährige Tochter wahr, beschreibt es aber in anderen Worten. Traumata, ob direkt oder indirekt erlebt, können zu anhaltenden Wesensveränderungen wie erhöhter Wachsamkeit oder Schreckhaftigkeit, Übervorsicht und Misstrauen führen. Das Welt- und das Selbstbild würden anhaltend erschüttert. Das jüdische Volk fühle sich stets bedroht, stehe gleichsam in ständiger Alarmbereitschaft – Hypervigilanz lautet der Begriff aus der Psychologie dazu.

Der Preis dafür, immer auf Sicherheit Bedacht zu nehmen und dem alles unterzuordnen, sei aber hoch, vieles bleibe dabei auf der Strecke. Teils, gibt die Psychologin zu bedenken, fühle sich die ständige Erinnerung an vergangene und aktuelle Demütigungen und Bedrohungen wie eine „kognitive Verzerrung“ an. Gleichwohl teilt sie die Beunruhigung angesichts des enormen Aufflackerns des Antisemitismus, eine neue Dimension sieht sie in den Gräuelbildern, die von der Hamas in Umlauf gebracht wurden. Zwar seien öffentlich zu Schau gestellte Demütigungen Teil der jüdischen Geschichte, nie zuvor aber hätten sie sich derart rasant in der ganzen Welt verbreitet.

Antisemitismus in Österreich

„Wir werden uns nicht einschüchtern lassen“, sagt IKG-Präsident Oskar Deutsch in der „Pressestunde“

Der Alltag, erzählt die Publizistin, laufe weitgehend normal weiter. Doch wenn jüdisches Leben jetzt nur noch unter vermehrtem Schutz durch Polizei und Militär stattfinden könne, dann wisse man, dass etwas zerbrochen ist. Die Worte „Zäsur“ und „Paradigmenwechsel“ für das jüdische Leben scheinen da angebracht. „Aber wir werden uns nicht einschüchtern lassen“, sagte IKG-Präsident Oskar Deutsch – stellvertretend für viele – am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“.