Zerstörtes Wohnhaus in der ulrainischen Stadt Awdijiwka
Reuters
Russland vs. Ukraine

Zermürbung und hohe Verluste bei Awdijiwka

Durchschlagende militärische Erfolge kann derzeit weder die ukrainische noch die russische Armee für sich in Anspruch nehmen. Im Süden und Osten der Ukraine gibt es intensive Kämpfe. Besonders im Fokus steht derzeit Awdijiwka in der Nähe von Donezk, das inzwischen als Symbol des ukrainischen Widerstands gilt. Der Kampf ist geprägt von Zermürbung auf beiden Seiten und hohen Verlusten.

Während Russland entlang der Front nach wie vor Luftüberlegenheit hat, gibt es auf dem Boden für keine der beiden Seiten einen anhaltenden Durchbruch, mehrere Vorstöße sind gescheitert. In der seit Monaten umkämpften Stadt leben derzeit laut Behörden noch 1.000 Menschen, vor dem Krieg waren es 30.000. Moskau versucht, Awdijiwka von Nord- und Südwesten anzugreifen.

Einem russischen Militärblogger zufolge ist es schwierig, einen Manöverkrieg an einer statischen Front mit einer großen Anzahl von Personen und befestigten Gebieten auf beiden Seiten zu führen. Russische Streitkräfte hätten zudem Schwierigkeiten aufgrund der ukrainischen Minenfelder bei Awdijiwka.

Russland verlegte zusätzliche Truppen

Beobachtern zufolge ist der Kampf geprägt von hohen Verlusten bei Soldaten wie auch bei Material. Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium trug der russische Vorstoß bei Awdijiwka zu einem 90-prozentigen Anstieg der russischen Gefallenen bei. Dem US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) zufolge verlegte Russland zusätzliche Truppen an die Front bei Awdijiwka.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hob zuletzt das Durchhaltevermögen der ukrainischen Truppen im Frontabschnitt Awdijiwka hervor. Das Stadtzentrum und die einzige Versorgungsroute, eine 22 Kilometer lange Straße, stünden rund um die Uhr unter Beschuss, sagte der Leiter der Militärverwaltung der Stadt, Witali Barabasch. Entsprechend schwierig sei die Versorgungslage.

Begrenzte strategische Bedeutung

Laut dem finnischen Militäranalysten Emil Kastehelmi ist die Stadt für Russland „von sehr begrenzter strategischer Bedeutung“. Das Gebiet hinter Awdijiwka ermögliche keine direkten weiteren Operationen. Kastehelmi glaubt eher an politisches Kalkül, da die russischen Truppen seit Monaten keine wirklichen Siege mehr errungen hätten. An der Awdijiwka-Offensive festzuhalten könnte die Möglichkeit eines Erfolges bieten. Der Militäranalyst erwartet jedenfalls einen langen und schwierigen Kampf um Awdijiwka, da die Ukraine entschlossen scheine, die Stadt zu halten.

Ukraine: „Schwierige“ Lage bei Bachmut

Kampfgebiet ist auch die Gegend um Bachmut und in der westlichen Oblast Saporischschja. Vom ukrainischen Generalstab wurden südlich von Bachmut und Richtung Melitopol Offensivaktionen durchgeführt. Auf russischer Seite hieß es, dass mehrere Angriffe auf Kupjansk und in der Nähe von Bachmut abgewehrt worden seien. Alle Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.

Der Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, General Olexandr Syrskyj, bezeichnete die Lage bei Bachmut, das nach monatelangen Kämpfen im Mai von Russland eingenommen worden war, als besonders schwierig: „Der Feind hat große Verluste erlitten, vor allem an Menschen, aber er füllt seine Truppen ständig auf, indem er Reservisten heranzieht, auch aus Russland.“

Ukrainische Soldaten nahe Dnipro
AP/Alex Babenko
Thinktank: Ukrainische Truppen überquerten Dnipro

Ukrainische Truppen überquerten laut ISW im Süden der Ukraine bei Cherson den Dnipro, um neue Stellungen einzunehmen. Derzeit besetzen russische Truppen das Ostufer bei Cherson, das Westufer ist unter ukrainischer Kontrolle, wird aber immer wieder beschossen. Von russischer Seite hieß es, dass es ukrainische Überquerungsversuche gegeben habe.

Generalstab: Ausreichend Freiwillige

Aus Russland gibt es keine Angaben über die Zahl der Verluste. Das britische Verteidigungsministerium schätzt, dass seit Kriegsbeginn 150.000 bis 190.000 russische Soldaten starben oder schwer verwundet wurden. Es gebe ausreichend Freiwillige, die einen Kriegsdienst ableisteten und in der Ukraine die „entsprechenden Aufgaben erfüllen“, hieß es vom russischen Generalstab Ende September.

Nach offiziellen russischen Angaben hatten sich in den vergangenen Monaten rund 300.000 Freiwillige zum Kriegsdienst gemeldet. Bei einer Teilmobilmachung im vergangenen Jahr wurden zudem 300.000 Reservisten eingezogen. Schon diese Mobilmachung hatte in der Bevölkerung für Proteste und die Flucht Hunderttausender Reservisten ins Ausland gesorgt. Beobachter gehen davon aus, dass aufgrund der für Frühjahr 2024 geplanten Präsidentschaftswahl der Kreml eine weitere Mobilmachung vermeiden will und daher verstärkt auf Freiwillige setzt.

Bericht: Russland wirbt Frauen für Einsatz an

Einem Bericht des investigativen, unabhängigen russischen Nachrichtenportals iStories zufolge rekrutiert Russland nun Soldatinnen auch für Kampfeinsätze im Krieg gegen die Ukraine. Bisher wurden Frauen beim russischen Militär vor allem als Sanitäterinnen und in der Küche eingesetzt. Jetzt sollen sie für die dem Verteidigungsministerium unterstehende Söldnereinheit Redut angeworben werden.

Laut dem Bericht sollen die Frauen als Scharfschützinnen und für den Einsatz von Drohnen zum Einsatz komme. Den Soldatinnen werde ein Halbjahresvertrag mit einem Monatsgehalt von umgerechnet etwa 2.200 Euro angeboten. Bei einer Verletzung gibt es 30.000 Euro Prämie, im Todesfall sollen den Hinterbliebenen rund 50.000 Euro ausgezahlt werden.

Anzeigen dafür sind dem Bericht zufolge im russischen sozialen Netzwerk Wkontakte aufgetaucht. Vorzugsweise würden im Umgang mit Waffen geübte Frauen genommen, hieß es von einer Rekrutierenden gegenüber iStories, Anfängerinnen sollen innerhalb von einem Monat an der Waffe ausgebildet werden.

GB: Strafbataillone für Angriff

Britischen Geheimdiensterkenntnissen zufolge hat Russland zudem Schwierigkeiten, spezielle Infanterieeinheiten zusammenzustellen. Die „Sturm-Z“ genannten Einheiten waren laut britischem Verteidigungsministerium vermutlich als Elitetruppen geplant.

Seit dem Frühjahr dieses Jahres seien daraus „de facto Strafbataillone geworden, die mit Sträflingen sowie regulären Soldaten, die Disziplinarverstöße begangen haben, besetzt“ seien. Es gebe Berichte, die zeigten, dass diese Einheiten kaum logistische und medizinische Unterstützung erhielten, aber dennoch zum Angriff getrieben würden.

„Phase intensiver Zermürbung“

Der wissenschaftliche Mitarbeiter am ukrainischen Nationalen Institut für Strategische Studien, Mykola Bieljeskow (Bielieskov), sieht Russland derzeit eine defensive Strategie verfolgen, wobei versucht werde, den Konflikt entlang der derzeitigen Frontverläufe einzufrieren. Fehlende ukrainische Durchbrüche im Rahmen der Gegenoffensive hätten den Eindruck einer Pattsituation verstärkt, schrieb er in einem Beitrag für den US-Thinktank Atlantic Council.

Das sei aber irreführend. Vielmehr handle es sich derzeit um eine „Phase intensiver Zermürbung“. Die Defensive allein werde den russischen Präsidenten Wladimir Putin auch vor dem Hintergrund der für 2024 geplanten Präsidentschaftswahl nicht zufriedenstellen, argumentierte Bieljeskow. Putin werde darauf bedacht sein, Stärke zu zeigen.