Pressekongerenz von Yocheved Lifshitz
APA/AFP/Erik Marmor
„Durch die Hölle gegangen“

Freigelassene berichtet von Hamas-Geiselhaft

Die 85-jährige Jocheved Lifschiz ist am Montag aus der Gewalt der Hamas freigelassen worden. Gemeinsam mit einer weiteren Frau war sie mehr als zwei Wochen im Tunnelsystem in Gaza gefangen. Lifschiz schilderte nun entsetzliche Details ihrer Entführung, sie sei „durch die Hölle gegangen“. Dass sie einem Mitglied der Hamas die Hand schüttelte, sorgte in sozialen Netzwerken für entsetzte Reaktionen.

Lifschiz sagte am Dienstag in Tel Aviv, sie sei am 7. Oktober bei ihrer Entführung von den Extremisten geschlagen worden. Die Terroristen hätten in ihrem Kibbuz gewütet, hätten Menschen getötet oder entführt und dabei keinen Unterschied zwischen Alten und Jungen gemacht. Zwei Männer hätten sie auf einem Motorrad verschleppt. Einer habe sie während der Fahrt in den Gazastreifen mehrfach auf die Rippen geschlagen. „Das hat so geschmerzt, ich konnte nicht atmen.“

Danach sei sie ins Tunnelsystem im Gazastreifen verschleppt worden. Dort, in ihrer zweiwöchigen Gefangenschaft, habe man sich aber um sie gekümmert. „Die haben uns gut behandelt“, so Lifschiz. Alle zwei, drei Tage habe ein Arzt nach den Geiseln geschaut. Ein verwundeter Mann habe Antibiotika und Medikamente bekommen. Sie hätten das Essen mit Mitgliedern der Hamas geteilt. Diese hätten sich sehr darum bemüht, den Ort sauber zu halten.

Dieses Tunnelsystem sei „wie ein Spinnennetz“. Bei ihrer Ankunft seien in einer großen Halle 25 Gefangene gewesen. Sie hätten ihr die Uhr und Schmuck abgenommen.

Ehemann setzte sich für Palästinenser ein

Nach Angaben des Büros von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu handelt es sich bei der zweiten freigelassenen Geisel um die 79 Jahre alte Nurit Kuper. Die beiden Israelinnen stammen aus dem Kibbuz Nir Os und waren zusammen mit ihren über 80-jährigen Ehemännern während des Großangriffs der Hamas entführt worden.

Die beiden Ehemänner werden Netanjahus Büro zufolge weiterhin mit mehr als 200 weiteren Geiseln im Gazastreifen festgehalten. Was mit ihrem Mann Oded Lifschiz ist, weiß die Familie nicht, wie eine Tochter sagte. Er sei verletzt.

Naher Osten: Weitere Geiseln frei

Die Hamas hat zwei weitere Gefangene freigelassen. Es handelt sich um zwei ältere israelische Frauen, die bereits in Tel Aviv eingetroffen sind. Eine der beiden erzählte nun, wie sie die Gefangenschaft erlebte.

Laut BBC handelt es sich bei Oded Lifschiz nach Angaben der Tochter um einen Journalisten, der sich seit Jahrzehnten für Frieden und die Rechte der Palästinenser einsetzte. Er spreche Arabisch und habe früher für die Zeitung „Al-Hamischmar“ gearbeitet, die in Israel und den palästinensischen Gebieten veröffentlicht wurde. Zuletzt habe er sich ehrenamtlich für eine Gruppe, die kranke Palästinenser aus Gaza zur Behandlung in israelische Krankenhäuser transportiert, engagiert. Das Ehepaar habe den Kibbuz Nir Os gemeinsam gegründet, nachdem Oded seinen Job bei der Zeitung aufgegeben hatte.

Lifschiz’ Tochter Scharoni (Sharone) sagte der BBC, sie sei „ein bisschen sprachlos“. Ihre Mutter wiederzusehen „ist eine unglaubliche Sache. Ihre Hand zu halten, einfach ihr Gesicht und ihre Wange zu küssen, und ich bin so stolz auf sie, sie ist unglaublich.“ Nun wolle sie eine schöne Zeit mit ihr verbringen, aber es seien noch über 200 Menschen in Geiselhaft. „Wir dürfen uns nicht nur auf unser persönliches Glück beschränken, sondern müssen auf die Freilassung aller hinarbeiten“, so Scharoni Lifschiz.

Empörung nach Händeschütteln

Die Al-Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der Hamas, veröffentlichten auf Telegram ein Video. Es zeigt die beiden Frauen in Begleitung von maskierten und bewaffneten Mitgliedern der Brigaden bei der Übergabe an Mitarbeiter des Roten Kreuzes. Die Bilder, die von den Al-Kassam-Brigaden stammen, zeigen zudem Lifschiz, wie sie bei der Freilassung einem Mitglied der Hamas die Hand gibt. Diese Geste sorgte in sozialen Netzwerken für entsetzte Reaktionen.

Lifschiz’ Tochter erklärte die Geste gegenüber der BBC. Das passe einfach zum Charakter ihrer Mutter: „Die Art und Weise, wie sie wegging und dann zurückkam und sich dann bedankte, war für mich einfach unglaublich. So ist sie.“

Händeschütteln löst Reaktionen aus

Lifschiz schüttelt auf einem Video, das die Hamas veröffentlichte, einem Extremisten die Hand. Im Netz löste das Empörung aus. Ihre Tochter verteidigte die Geste.

Die 85-jährige Lifschiz schloss ihre Schilderungen mit einer Kritik an der israelischen Führung. Die Hamas sei schon drei Wochen vor dem Großangriff in die Umgebung des Kibbuz eingedrungen. „Sie haben uns gezeigt, wozu sie fähig sind, indem sie unsere Felder niedergebrannt haben, aber die Streitkräfte haben das nicht ernst genommen.“

Spirale der Gewalt seit 7. Oktober

Die Freilassung erfolgte nach einer Vermittlung durch Katar und Ägypten. Die beiden Frauen waren laut Hamas aus „humanitären“ Gründen freigelassen worden. Auch jene beiden Geiseln, die schon vorige Woche in Freiheit kamen – es handelte sich um Mutter und Tochter mit US-Pass – waren angeblich aus denselben Gründen freigekommen.

Die Hamas nutzt die Freilassungen auch als Propagandaschachzug. In einer Erklärung der Terrororganisation hieß es vergangene Woche, man wolle den Bürgern in den USA und der ganzen Welt zeigen, dass die „Behauptungen“ der US-Regierung über die Hamas unbegründet seien.

Hamas-Mitglied: Weitere Freilassung nur gegen Treibstoff

Die radikalislamische Hamas will weitere Geiseln nur dann freilassen, wenn Israel die Lieferung von Treibstoff sowie Arzneimitteln in den Gazastreifen erlaubt. „Wir haben vier (Geiseln) bedingungslos aus humanitären Gründen freigelassen“, sagte Osama Hamdan, ranghohes Mitglied im „Politbüro“ der Hamas, gegenüber der dpa am Dienstag in Beirut. Weitere Freilassungen werde es erst geben, wenn die Weltgemeinschaft Druck auf Israel ausübe.

Pressekongerenz von Yocheved Lifshitz
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Lifschiz’ Schilderungen zogen am Dienstag große Aufmerksamkeit auf sich

Die notleidende Zivilbevölkerung im Gazastreifen braucht dringend Treibstoff, auch um die Versorgung etwa mit Wasser und Strom sicherzustellen. „Ohne Treibstoff wird es kein Wasser geben, keine funktionierenden Krankenhäuser und Bäckereien“, warnte das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA). „Ohne Treibstoff wird es keine humanitäre Hilfe geben.“ Israel befürchtet dagegen nach Worten der zuständigen Behörde, dass die Hamas mit Treibstoff „ihre Terrortunnel beleuchtet, Raketen abfeuert und für ihre eigenen Häuser“ statt die der Zivilbevölkerung bereitstellt.

Weiter Gespräche über Start der Bodenoffensive

Bei dem Überfall der Hamas am 7. Oktober wurden laut israelischen Regierungsangaben über 1.400 Menschen getötet. Als Reaktion auf den Großangriff riegelte Israel den Gazastreifen ab und startete Luftangriffe. Die Hamas spricht von bisher 5.791 Toten im Gazastreifen.

Auch eine Bodenoffensive Israels ist geplant, der Startzeitpunkt scheint allerdings unklar. Laut Medienberichten hatten die USA Israel um eine Verschiebung gebeten. Einem Bericht des Nachrichtenportals Axios von Dienstag zufolge erklärte sich Israel bereit, noch zuzuwarten. Das solle Gespräche über die Freilassung einer großen Anzahl von Geiseln ermöglichen, die in den Gazastreifen verschleppt wurden. Israels Armee gab an, sie prüfe den Bericht.

Netanjahus Büro erklärte erneut, die israelische Regierung, die Armee und alle Sicherheitsdienste würden weiterhin alles tun, „um alle Geiseln zu finden und alle entführten Menschen nach Hause zu bringen“.

Israels Armee stellte Bewohnern des Gazastreifens eine Belohnung in Aussicht, wenn sie Informationen über die verschleppten Geiseln weitergeben. Das Militär versprach zudem „absolute Diskretion“. Weiter hieß es auf Flugblättern, die aus der Luft abgeworfen wurden: „Wenn Sie eine bessere Zukunft für sich und Ihre Kinder wollen, versorgen Sie uns mit konkreten und hilfreichen Informationen über die in Ihrer Region festgehaltenen Geiseln.“