propalästinensische Demonstration in London
IMAGO/ZUMA Wire/Daniel Lai
Demos für Hamas

Israelis fühlen sich von Europa verraten

Das Entsetzen über die Gräueltaten der Hamas an israelischen Zivilistinnen und Zivilisten hat in Teilen der europäischen Öffentlichkeit nur kurz angehalten – längst mobilisieren vor allem sich als progressiv verstehende Aktivistinnen und Aktivisten bis zu unpolitischen Influencern gegen Israel und dessen militärische Operation gegen die Hamas in Gaza. Die moralische Empörung über Israels Reaktion und die gleichzeitige Verdrängung des von der Hamas begangenen Zivilisationsbruchs wird in Israel mit Fassungslosigkeit und dem Gefühl des Verratenwerdens aufgenommen.

Es sei in mehrfacher Hinsicht verkehrt, zeuge von „intellektueller Faulheit“ und sei auch für Europa selbst gefährlich, finden der israelische Soziologe Natan Sznaider und die Historikerin Fania Oz-Salzberger. Die Ermordung Hunderter junger, tanzender Menschen bei einer Rave-Party, ganzer Familien in ihren Häusern, die Verstümmelung von Alten und Babys und die Entführung von mehr als 200 Menschen; dass all das die Mörder auf Videos dokumentierten und in sozialen Netzwerken veröffentlichten und dazu Kampfschreie wie „Schlachtet die Juden!“ hören ließen, sei nicht nur unfassbar, sondern ein „Bruch“, so Sznaider in einem aktuellen Text mit dem Titel „Lüge der Linken“, den die „Süddeutsche Zeitung“ (Onlineausgabe) am Montag veröffentlichte.

Der Überfall vom 7. Oktober ist in vielfacher Hinsicht für alle Israelis und Jüdinnen und Juden weltweit traumatisch. Für sie ist Israel das Land, das Juden Heimat und Schutz vor Verfolgung bietet. Pogrome, Verfolgung und Antisemitismus in Europa waren Ende des 19. Jahrhunderts ja überhaupt erst der Grund, warum die zionistische Bewegung gegründet und das Ziel, einen eigenen jüdischen Staat zu schaffen, verfolgt wurde. Erst nach dem Holocaust wurde dieser Realität.

„Der israelische Staat muss handeln“

Der israelische Staat hat darin nun – erstmals in seiner Geschichte – fundamental versagt. Es sei die zentrale Aufgabe jedes Staates, genau solche Grausamkeiten wie die von der Hamas begangenen zu verhindern, so Sznaider. Wenn es den Staat, der einen schützen soll, nicht mehr gebe, sei das „der Bruch mit der vertrauten Welt“.

Dieses tief verankerte Bewusstsein, dieses „Wir haben kein anderes Land“ präge Israel und es erkläre, so Sznaider, auch die nunmehrige „harte“ Reaktion: „Der israelische Staat muss handeln, wenn jüdische Menschen weiter hier leben sollen.“

Zerstörte Autos und Häuser im Kibbutz Be’eri
Reuters/Amir Cohen
Die Hamas-Milizen gingen mit großer Brutalität vor und filmten sich bei den Verbrechen

„Moralische Blindheit“

Eben weil es um etwas so Grundlegendes geht, ist das – schon seit jeher in jede Richtung falsche Vergleichen im Nahost-Konflikt (wer denn der größere Täter, wer das größere Opfer sei) nicht nur müßig und eine Hürde bei der Suche nach Lösungen. Trotz des extremen moralischen Pathos in den Pro-Hamas-Aufrufen und propalästinensischen Demos sei es vor allem auch Ausdruck einer großen „moralischen und politischen Blindheit“, wie es Sznaider ausdrückt. Der Soziologe vermutet, dass es vielen darum gehe, ihre gewohnten Denkschemata abzusichern und „die scheinbare Sicherheit, die Welt zu verstehen“, wiederherzustellen.

Fani Oz-Salzberger
Karl Gabor
Oz-Salzberger lebt selbst in einem Kibbutz und rät Israelis, das Gespräch mit der „humanistischen Linken“ in Europa und den USA zu suchen

„Schreckliche intellektuelle Faulheit“

Ähnlich sieht das die israelische Historikerin Oz-Salzberger, Tochter von Amos Oz. Sie sprach zuletzt im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender Kan angesichts der undifferenzierten Parteinahme von Teilen der Linken in Europa und den USA von einer „schrecklichen intellektuellen Faulheit“. Sie hätten entschieden, dass die Solidarisierung mit der Hamas mit jener der palästinensischen Bevölkerung gleichzusetzen sei, und sie versuchten „zu denken, dass sie auf der richtigen Seite stehen“.

Entsetzen bei Israels Linker

Israels liberale und linksgerichtete Bevölkerung, die in den letzten Monaten mit der Mobilisierung gegen den Justizumbau und die rechts-religiöse Regierung die Lebendigkeit der Demokratie unter Beweis stellte, ist angesichts der Solidarisierung auch von Frauenorganisationen und LGBTQ-Vertretern in Europa mit der radikalislamischen Hamas ebenso perplex wie entsetzt.

Viele Kommentatorinnen und Kommentatoren reagieren fassungslos und wütend. Bereits letzte Woche veröffentlichten Dutzende israelische Friedensaktivisten und Progressive ein Statement, in dem sie die „Gleichgültigkeit“ von Teilen der europäischen und US-amerikanischen Linken scharf kritisierten.

Ohne eine eindeutige und alle Seiten umfassende Verurteilung von unterschiedsloser Gewalt an Zivilisten werde der Kampf gegen die israelische Besatzung und für gleiche Rechte für „alle in Israel-Palästina“ untergraben. Der Aufruf wurde unter anderen von den Bestsellerautoren Yuval Harari und David Grossman unterzeichnet. Harari betonte gegenüber dem „Guardian“, Friedensaktivisten in Israel seien „am Boden zerstört“ und fühlten sich „von ihren angeblichen Verbündeten (im Kampf für Frieden, Anm.) verlassen und verraten“.

Oz-Salzberger betonte, sie könne die Wut angesichts der einseitigen Solidarisierung von Leuten, die man auf seiner Seite wähnte, gut verstehen. Sie mahnte zur Differenzierung, denn neben den „Progressiven“ gebe es auch die humanistische Linke, die sehr wohl das Einzigartige am jüngsten Vorgehen der Hamas verstehe – ganz abseits von legitimer Kritik an Israels jahrzehntelanger Besatzung. Und es gebe viele, die unentschlossen seien, und mit ihnen müsse man ins Gespräch zu kommen versuchen.

„Wer das nicht versteht, erliegt dem Bösen“

Oz-Salzberger betonte zuletzt in einem Tweet, es gebe keinen Unterschied zwischen einem Kind, das in Gaza bei einem israelischen Luftangriff getötet werde, und einem israelischen Kind, das von der Hamas „gefoltert und geköpft“ werde. „Nein. Es ist kein Unterschied zwischen den toten Kindern. Aber es ist ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen den Menschen, die ihren Tod verursacht haben. Wer das nicht versteht, der erliegt dem Bösen.“

Natan Sznaider
picturedesk.com/dpa/Monika Skolimowska
Sznaider warnt Linke, die Bedrohung durch den Islamismus auch für Europa nicht zu unterschätzen

Gemeinsame Bruchlinie

Auf einer moralischen und intellektuellen Ebene steht auch für Europas Öffentlichkeit viel auf dem Spiel: dann nämlich, wenn verkürzt, undifferenziert und nur in eine Richtung empathisch über Geschehnisse in der Region gedacht wird, die historisch bedingt die größte gesellschaftspolitische Bruchstelle Europas selbst ist. Ist doch Europa darauf aufgebaut, die Lehre aus den beiden Weltkriegen, der Diktatur von Faschismus und Nationalsozialismus und dem Holocaust zu ziehen: alles dafür zu tun, dass sich solches nicht wiederholen kann.

„Geht nicht nur um Überleben der Israelis und Juden“

Sznaider zufolge stehe „ein auf Eigeninteressen beruhendes politisches Urteilsvermögen, worum es bei diesem Krieg geht“, auf dem Spiel. Es gehe auch um die Freiheit jener, die nun auf die Straßen gingen und dort „Free Palestine from German Guilt“ („Befreit Palästina von deutscher Schuld“) und „Vom Jordan bis zum Meer: Palästina wird frei sein“ skandierten. Es geht für Sznaider auch um die Bewahrung freier demokratischer Gesellschaften: „Auch darum geht es nun in diesem Krieg. Nicht nur um das Überleben der Israelis und Juden, sondern um das Besiegen des Dschihadismus. Damit auch die Gegner der Juden frei leben können.“