Illustration von Fake News mit einem Handy und TikTok-Logo auf einem Handy
IMAGO/NurPhoto/Jonathan Raa
Soziale Netzwerke

Krieg und der Drang, Stellung zu beziehen

Der Krieg in Israel geht an kaum jemandem spurlos vorüber. Was der deutsche Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen „Die große Gereiztheit“ nennt, lässt sich derzeit in den sozialen Netzwerken in der größten Entfaltung beobachten. Die Tendenz zur Hassspirale ist nicht neu, der aktuelle Krieg aber verstärkt sie erneut. Viele sehen sich nun aufgerufen oder ermächtigt, öffentlich ihre Meinung kundzutun.

„Wo bleibt deine Menschlichkeit?“, „Dein Schweigen ist ohrenbetäubend“, „Du musst eine Seite wählen“: Solche und noch mehr Aussagen überschwemmen die sozialen Netzwerke weltweit seit dem 7. Oktober. Ein aktuelles Kommentarvideo der „New York Times“ zeigt diese und viele weitere Aussagen solcher Art, zusammen mit Prominenten und großen Unternehmen, die sich aufgerufen sahen, Stellung zu beziehen. Der Titel lautet: „Wähle eine Seite. Wähle eine Seite. Wähle eine Seite. Sofort.“

Die unausgesprochene Aufforderung, sich öffentlich zu äußern, und zwar gleich, ist den sozialen Netzwerken inhärent, erfährt aber momentan ihre Hochkonjunktur. Fake News, Desinformation und vor allem Wut fluten die digitale Agora.

Junge wollen alles sagen, zu jedem Preis

Ulrike Zartler, Soziologin an der Uni Wien, forscht zu Hass im Netz und wie man dagegen auftreten kann. „In der Arbeit mit Jugendlichen sehen wir deutlich, dass sie der Ansicht sind, in einer Demokratie müsse jede Meinungsäußerung erlaubt sein. Und dabei müsse es gänzlich egal sein, welche Ansicht man äußert und wie. Jeden Gedanken zu jedem Thema so darzulegen, wie man möchte, sei automatisch demokratisch", so Zartler zu ORF.at.

„Deshalb erscheint es vielen auch gar nicht sinnvoll, die so betrachtete ‚freie Meinungsäußerung‘ auf sozialen Netzwerken einzuschränken. Das ist ein flaches Demokratieverständnis, es bräuchte eine Wertedebatte.“

Zahnlose Maßnahmen

Staatliche und überstaatliche Organisationen hinken hinterher, wenn es darum geht, den entfesselten Ärger einzufangen. Die EU etwa erhöhte kürzlich den Druck auf die großen Plattformen Meta, TikTok und vor alle Twitter (X). Den ersten beiden wurde ein Fragenkatalog zu ihren Maßnahmen gegen Desinformation und Hassrede im Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen Hamas und Israel zugeschickt.

Formelle Ermittlungen wären in der Folge möglich. Bei Twitter wurde das bereits getan. Doch Twitter-Chef Elon Musk, der sich selbst als Hüter der Meinungsfreiheit wähnt, tat zuletzt wenig, um Hass und Fake News entgegenzutreten. Er strich Schnittstellen, über die Forschende Hassrede und Falschinformationen nachgehen konnten, zusammen und drohte mit Klagen gegen NGOs.

Wut ist selbst Multiplikator

Man müsse sich die Eigentümerstrukturen ansehen, so die Politikwissenschaftlerin und Gründerin der Kampagnenorganisation #aufstehn, Maria Mayrhofer, zu ORF.at. „Die Art, wie aus sozialen Netzwerken Beiträge ausgespielt und vervielfältigt werden, welche Medien dort als vertrauenswürdig eingestuft werden, hat sich sehr verändert. Hier wird, nicht erst seit Elon Musk Twitter übernommen hat, stark eingegriffen, auch aus wirtschaftlichem oder politischem Interesse“, so Mayrhofer. Wie sich in den vergangenen Jahren die Algorithmen weiterentwickelten, verstärke diese Tendenzen. Was die Emotion Wut transportiert, werde verbreitet.

Doch die technologischen Gründe seien nur eine Seite. Seit Jahren sehe man die grundsätzliche Tendenz zur Hassspirale. 2015 seien die Angriffe in den sozialen Netzwerken zu den Themen Asyl und Migration eskaliert, weitere Peaks habe es während der Pandemie und rund um den Ukraine-Krieg gegeben. Auch das Thema Klimaschutz habe stark polarisiert und massenweise Nachrichten voller Einschüchterungen, Hass und Drohungen nach sich gezogen.

Monage von Tiktok-Screenshots
Screenshots www.tiktok.com (Montage)
Der Krieg Israels gegen die Hamas emotionalisiert weltweit – im Netz sind keine Grenzen gesetzt

Nun, mit dem Israel-Hamas-Krieg, komme noch hinzu, dass zum Komplex „Nahost“ quasi jeder und jede eine Meinung habe und mitunter eine starke Identifikation für eine Seite. „Nicht nur in Österreich ist das Thema stark emotional aufgeladen, hier kommen Bruchlinien deutlich zutage – so stark wie seit Langem nicht.“

Kaum jemand kommt aus

Manche Influencer und Influencerinnen hätten etwa geäußert, es werde erwartet, dass sie Position beziehen, so Mayrhofer. Andere suchten die Zuspitzung, seien der Meinung, man müsse mitmischen, wenn man etwas auf sich halte. „Der Druck, sich in solch entscheidenden Momenten in der öffentlichen Sphäre Betroffenheit auszudrücken, ist sehr groß“. Die Debatte sei derart omnipräsent, dass kaum jemand auskomme.

Kriegspropaganda auf sozialen Netzwerken

Der Nahost-Konflikt ist auch ein Krieg der Bilder. Propaganda, Gerüchte und Gewaltdarstellungen verbreiten sich auf sozialen Netzwerken rasend schnell, werden ungefiltert geteilt und Meinungen kundgetan. Dietmar Pichler vom Zentrum für digitale Medienkompetenz spricht über diese Probleme.

Die Hemmschwellen für Beleidigungen und Ähnliches seien immer weiter gefallen. Das Phänomen, dass Userinnen und User Dinge schreiben, die sie jemandem niemals in Gesicht sagen würden, gelte immer noch – in polarisierten Situationen wie dieser umso mehr. Und die Gefahr, dass die Wut, die sich online bildet, sich offline entfaltet und handfeste Folgen zeitigt, sei ernstzunehmen.

Man könne aber entgegenwirken, so Mayrhofer, die sich bessere digitale Bildung an Schulen wünscht, ebenso wie wirksame Regulatorien für die großen Plattformen. Auch müsse Medienförderung Qualität im Fokus haben statt Reichweite, die mit Emotion erreicht werde.