Womens March vor dem Supreme Court in Washington D.C
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Trotz „Red States“

Zahl der Abtreibungen in den USA steigt

Seit das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch 2022 in den USA gekippt worden ist, können die Bundesstaaten selbst die Regeln bestimmen. Viele konservative Staaten haben Schwangerschaftsabbrüche nahezu verboten. Die Zahl der Eingriffe verringerte das aber nicht: Offenbar weichen betroffene Frauen nun in liberalere US-Staaten aus und lassen dort die Schwangerschaft beenden.

Vor dem Urteil des Supreme Court waren Schwangerschaftsabbrüche in den USA mindestens bis zur 24. Woche erlaubt. Dieses fast 50 Jahre lang geltende Recht kippte das Gericht am 24. Juni 2022 mit seiner rechten Mehrheit. Die Entscheidung machte Schwangerschaftsabbrüche nicht illegal, jedoch liegt die Hoheit über die Gesetzgebung seither bei den einzelnen US-Staaten. Die Folge war ein rechtlicher Fleckerlteppich.

Inzwischen ist ein Abbruch in 16 US-Staaten nahezu unmöglich oder weitreichend eingeschränkt. In manchen gelten selbst Vergewaltigung und Inzest nicht als zulässige Gründe für einen Abbruch – auch Minderjährige können gezwungen werden, ein Kind auszutragen. Ausnahmen gibt es in der Regel nur in medizinischen Notfällen. Aus Angst, strafrechtlich belangt zu werden, scheuen sich allerdings viele Ärztinnen und Ärzte auch dabei vor dem Eingriff.

Einbruch da, sprunghafter Anstieg dort

Wenig überraschend handelt es sich bei diesen US-Staaten vor allem um „Red States“, also um solche, in denen die konservativen Republikaner regieren. Doch der vermeintliche Sieg der Abtreibungsgegner scheint ein Eigentor zu sein. Denn die neuen staatlichen Verbote trugen bisher kaum dazu bei, Frauen von einem Eingriff abzuhalten. Laut einer aktuellen Studie von WeCount ist die Zahl seit der Entscheidung des Supreme Court landesweit sogar leicht gestiegen.

Gegner und Befürworter von Abtreibung stehen sich gegenüber
Reuters/Elizabeth Frantz
Das Urteil des Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch hinterlässt eine tiefe Kluft

Während die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im Süden und mittleren Westen mit den Verboten eingebrochen sei, sei sie in US-Staaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche liberaler geregelt sind, sprunghaft gestiegen, zitierte das „Wall Street Journal“ (WSJ) die Daten von WeCount. Im Jahr nach der Supreme-Court-Entscheidung seien in Staaten mit einer restriktiven Gesetzgebung um fast 115.000 weniger Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt worden. Zugleich verzeichneten die anderen US-Staaten einen Anstieg von 117.000.

„Völlige Störung im Gesundheitssystem“

Diesen Trend spiegeln ähnliche Ergebnisse des Guttmacher-Instituts wider, einer Forschungsgruppe, die sich ebenfalls für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzt. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres seien in den US-Staaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche noch legal sind, mehr davon durchgeführt worden als im Vergleichszeitraum des Jahres 2020 in allen 50 US-Staaten zusammen – und zwar 511.000 gegenüber 465.000.

Die Daten deuten darauf hin, dass sich viele Patientinnen in Staaten begeben, die den Eingriff noch erlauben, wenn er im Heimatstaat verboten ist. „Aus landesweiter Sicht könnte es wie eine bloß leichte Zunahme aussehen“, zitierte die Tageszeitung „Guardian“ die WeCount-Vizevorsitzende Alison Norris. „Was aber tatsächlich passiert, ist eine völlige Störung im Gesundheitssystem und im Leben der Menschen.“ Es sei unklar, wie lange die inzwischen überfüllten Abtreibungskliniken mit der weiter steigenden Nachfrage Schritt halten können.

Auch eine soziale Frage

Zugleich darf man laut Norris vor allem auch jene, die nicht das Privileg eines Zugangs zu einem Schwangerschaftsabbruch haben, nicht vergessen. Abbrüche hätten immer auch eine soziale Dimension. Die Zahlen sind dort besonders hoch, wo es schlechten Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung gibt. Und sich in den nächstgelegenen Staat begeben zu müssen koste zusätzliches Geld.

Frauen, die sich eine Reise nicht leisten können, müssten „Hinterzimmerabtreibungen“ auf sich nehmen oder versuchen, online an Abtreibungspillen zu kommen. Um einkommensschwachen Patientinnen zu helfen, sammelten Abtreibungsfonds und gemeinnützige Organisationen Millionen Dollar. Der Chicago Abortion Fonds etwa habe seit 2021 sein Personal vervierfacht und sein Budget verdreifacht, hieß es. Der Fonds unterstütze Tausende Patientinnen bei Reisekosten, Hotelaufenthalten und Kinderbetreuung.

Rechtsstreit über Abtreibungspille

Zum Ärger von Abtreibungsgegnern lassen sich ungewollt Schwangere seit dem Supreme-Court-Urteil zunehmend Abtreibungspillen per Telemedizin verschreiben. Vor dem Juni 2022 machten solche medikamentös eingeleitete Schwangerschaftsabbrüche laut WeCount knapp fünf Prozent aus, nun seien es mehr als acht Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche in den USA. Weil Eingriffe außerhalb des Heimatstaates nicht untersagt werden können, nahmen Gegner die Abtreibungspille Mifepriston ins Visier und klagten gegen Zulassung des Mittels.

Ein von dem republikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump ernannter Richter im „Red State“ Texas setzte die Mifepriston-Zulassung daraufhin bundesweit aus. Diese Entscheidung wurde aber als ungewöhnlich gewertet, da Mifepriston seit mehr als zwei Jahrzehnten zugelassen ist und als sicher gilt. Der Fall landete schließlich vor dem Supreme Court. Der entschied nicht in der Sache – urteilte aber, dass der Zugang zur Pille aufrechterhalten werden soll, solange der Rechtsstreit läuft.

Mexiko schlägt anderen Weg ein

Im katholisch geprägten Nachbarland Mexiko vollzog sich derweil eine gegenläufige Entwicklung. Dort hatte der Oberste Gerichtshof im September Schwangerschaftsabbrüche landesweit legalisiert. Der Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs sei verfassungswidrig und verstoße „gegen das Entscheidungsrecht von Frauen und gebärfähigen Personen“, erklärte das Gericht.

Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sei ein „Akt der Gewalt und eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“, hieß es weiter. Die Entscheidung könnte laut Frauenrechtsorganisationen dazu führen, dass vermehrt Frauen aus den Vereinigten Staaten auch jenseits der Grenze in Mexiko Hilfe für einen Schwangerschaftsabbruch suchen.