Jugendliche und Ausbildner bei einer Photovoltaikanlage im Zuge der Lehrlingsausbildung am E-Campus in Graz
ORF/Viviane Koth
Lehre

Der Mythos vom „Plan B“

Die Zahl der Lehranfängerinnen und Lehranfänger ist zuletzt gestiegen. Viele Betriebe suchen dennoch händeringend nach Ausbildungswilligen. Ein zentrales Problem ist laut Fachleuten das Image der Lehre. Zu oft werde sie als „Plan B“ für Jugendliche gesehen, die die Schule abbrechen. Der Realität hält diese Ansicht in vielen Berufsfeldern nicht stand – sowohl was den Verdienst als auch was Qualifikations- und Aufstiegsmöglichkeiten betrifft.

„Lehre – Matura – Universitätsabschluss“, diese „Hierarchie“ sei in den Köpfen vieler Österreicherinnen und Österreicher nach wie vor fix verankert, sagt Eva Heckl von der KMU Forschung Austria im Gespräch mit ORF.at. Wer in der Schule scheitert, kann immer noch eine Lehre machen – das nicht gerade imagefördernde Bild der Lehre als „Plan B“ gehöre dringend zurechtgerückt, so die Forscherin.

Der Abwertung der Lehre gegenüber anderen Ausbildungswegen liegt aus ihrer Sicht viel Unwissen zugrunde. Etwa bei der Entlohnung: Das Bruttomedianeinkommen von Lehrlingen stieg im Vergleich von 2011 zu 2021 um 48 Prozent, berechnete die Wirtschaftskammer Österreich (WKO). Jenes von ganzjährig vollzeitbeschäftigten Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten wuchs im selben Zeitraum um 26 beziehungsweise 24 Prozent.

Lehrlinge in einer Lehrwerkstätte der Wiener Linien
ORF.at/Carina Kainz
Aus- und Weiterbildung sind bei Lehrlingen gefragt

Natürlich gibt es Branchen, in denen die Bezahlung trotz Lehrabschlusses und jahrelanger Arbeit niedrig ist. In vielen Berufen sei aber nicht nur das Lehrlingsgehalt gut, „sondern man kann nach Abschluss der Lehre gutes Geld verdienen, teilweise mehr als Uniabsolventen“, sagt Heckl. Über das gesamte Arbeitsleben gesehen haben Erwerbstätige mit Lehrabschluss laut WKO-Berechnungen ähnliche monatliche Bruttoeinkommen wie Absolventinnen und Absolventen von Berufsbildenden höheren und mittleren Schulen (BHS und BMS).

Matura als „Verkaufsargument“

Ähnlich verhält es sich laut Heckl in puncto Aufstiegsmöglichkeiten: „Als Facharbeiter kann man es weit bringen“, sagt sie. Gerade im Industriesektor hätten viele Führungskräfte einst als Lehrlinge begonnen. Die Lehrlinge selbst scheinen sich der Bildungsperspektiven durchaus bewusst, zeigt eine von der WKO in Auftrag gegebene Market-Umfrage, die im Oktober veröffentlicht wurde. 82 Prozent der Befragten gaben an, auch nach einer Lehre könne man weitere Ausbildungen machen, etwa Meisterprüfungen oder Matura.

Mädchen bei einer Lehrlingsausbildung am E-Campus in Graz
ORF/Viviane Koth
Das Angebot an Lehrstellen ist groß, die Orientierung für Jugendliche oft schwer

In Österreich besteht die Möglichkeit, fachliche und schulische Ausbildung zu kombinieren. Das Modell „Lehre mit Matura“ sei „eines unserer besten Verkaufsargumente für die Eltern“, sagt Monika Sandberger, Geschäftsführerin der Initiative „zukunft.lehre.österreich“. Oberösterreich bietet darüber hinaus die Lehre mit berufsbezogener Matura an. In einer Handelsakademie und einer Höheren Technischen Lehranstalt in Linz können Lehrlinge neben ihrer beruflichen Ausbildung die HAK- beziehungsweise HTL-Matura machen. Der erste Lehrgang startete im Herbst.

„Interessanterweise sehen Unternehmen den Weg vom Schulabbrecher zum Lehrling weniger kritisch als viele Eltern“, sagt Sandberger. Betriebe würden häufig betonen, oft sehr gute Erfahrungen mit Schulabbrecherinnen und Schulabbrechern zu haben. Diese Jugendlichen seien „in der Regel älter, haben den Großteil der Pubertät hinter sich und sind gestärkter in ihrer Persönlichkeit“.

Lehre nach der Schule

Viel ungenutztes Potenzial für die Wirtschaft ortet KMU-Forscherin Heckl bei jenen Jugendlichen, die bereits die Schule abgeschlossen haben. Die Lehre nach der Matura wird in Österreich zwar beliebter, angesichts der wachsenden Zahl von Maturantinnen und Maturanten sollte diese Gruppe laut Heckl aber viel stärker angesprochen und für die Lehre begeistert werden.

Mehr Orientierungsmöglichkeiten gefordert

Für Jugendliche ist der Weg zum idealen Lehrberuf oft verschlungen. Das Angebot ist groß und wächst zunehmend – Stichwort „Green Jobs“. Was es hier bräuchte, wäre eine bessere Berufsorientierung und -beratung im Schulsystem, sagt Melina Schneider, Leiterin der Abteilung für Bildungspolitik in der WKO, gegenüber ORF.at. „Das ist derzeit nicht in der Form da, die wir uns wünschen würden.“

Ein eigenes Fach „Berufsorientierung“ gibt es aktuell in den Mittelschulen, nicht aber den Allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS). Daneben gibt es die Möglichkeit, einen „Talentecheck“ bei der Wirtschaftskammer durchführen zu lassen.

Lehrlinge in Werkstätte
ORF.at/Carina Kainz
Die Berufsorientierung kommt nach Ansicht der WKO in der Schule zu kurz

Generell sollten die Schulen helfen, die Talente und Stärken von Schülerinnen und Schülern sichtbar zu machen. Dabei gehe es nicht nur um Noten, sondern Fähigkeiten und Potenziale, sagt Schneider. Das Schulsystem fokussiere zu stark darauf, „was man nicht kann“.

Wunsch nach Aus- und Weiterbildung

Die Zeiten, in den man nach der Lehre ein Leben lang im erlernten Beruf blieb, sind schon länger vorbei. Gefragt bei Lehrlingen sind zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten. In der Market-Lehrlingsumfrage wünschten sich vier von zehn Befragten mehr Möglichkeiten, im Beruf höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben.

Erfreut zeigt man sich bei der Wirtschaftskammer in diesem Zusammenhang über ein entsprechendes Gesetz zur höheren beruflichen Bildung, das sich aktuell in Begutachtung befindet. Mit dem Bundesgesetz über die höhere berufliche Bildung wird die Schaffung von Berufsbildungsabschlüssen ermöglicht, die gleichwertig zu allgemeinen und hochschulischen Bildungsabschlüssen sind. 1,6 Mio. Fachkräfte in Österreich „können solche Abschlüsse berufsbegleitend erwerben und sich im Betrieb in Fach- und Führungskarrieren weiterentwickeln“, so die WKO.

Lehrlingszahlen: Trend in „richtige Richtung“

Was die Lehrlingszahlen insgesamt anbelangt, geht der Trend laut WKO in die „richtige Richtung“. Mit Ausnahme einer „Delle“ in den Pandemiejahren sei die Zahl der Lehrlinge in den vergangenen Jahren insgesamt im Steigen, so Schneider. Die Zahl der Lehranfängerinnen und Lehranfänger erreichte im September ein Zehnjahreshoch. Fast 33.000 junge Menschen starteten in die Berufsausbildung. Ein Rekord wird auch aus Wien gemeldet. Besonders gefragt sind „grüne Jobs“ – mehr dazu in wien.ORF.at.