Mitglieder der UAW beim Streik
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Sieg im Autostreik

US-Gewerkschaften haben einen Lauf

Der historische sechswöchige Streik in der US-Autoindustrie ist mit der vorläufigen Einigung der Gewerkschaft auch mit General Motors (GM) zu Ende gegangen – und mit einem großen Sieg der Gewerkschaften. Der Chef der Gewerkschaft UAW, Shain Fawn, überraschte die Autoriesen mit einer neuen Strategie. Generell feiern Gewerkschaften derzeit angesichts der guten Wirtschaftslage ein für US-Verhältnisse unerwartet großes Comeback.

Als letzter der „Detroit Three“ erzielte GM eine vorläufige Einigung mit der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW). Diese hatte sechs Wochen lang bis zu neun Betriebe der drei Konzerne Ford, Stellantis (inklusive Chrysler) und GM gleichzeitig bestreikt und damit Rekordzahlungen für ihre Mitglieder ausgehandelt.

Die UAW handelte bei GM ein ähnliches Paket aus wie zuvor bei den anderen beiden Autokonzernen. Das Gehalt für erfahrene Arbeiterinnen und Arbeiter in der höchsten Gruppe steigt dabei um 33 Prozent über die nächsten fünf Jahre. Wie die Nachrichtenagentur Reuters von zwei Insidern erfuhr, steigen damit die Personalkosten allein für GM in den fünf Jahren um sieben Milliarden Dollar.

Außerdem werden mehr Arbeiterinnen und Arbeiter künftig von diesem Kollektivvertrag profitieren. Einige der Unterstützungen, auf die die Gewerkschaft im Zuge der Finanzkrise zum Erhalt der Autoriesen verzichtete, werden nun wieder eingeführt.

UAW-Präsident Shawn Fain
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Fawn überraschte sein Gegenüber mit einer neuen Taktik

Der Gewerkschaft zufolge soll die Belegschaft ihren Streik beenden, noch während der neue Vertrag ratifiziert wird. Allein Stellantis kostete der wochenlange Streik rund drei Milliarden Dollar (2,8 Mrd. Euro).

Biden sieht „historische Einigung“

US-Präsident Joe Biden, der – anders als alle Präsidenten der letzten Jahrzehnte – die Gewerkschaften aktiv unterstützt und die Streikenden auch einmal besucht hatte, begrüßte den Ausgang. „Diese Rekordvereinbarungen sind eine Belohnung für die Beschäftigten in der Automobilindustrie, die während der Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt viel aufgegeben haben, um die Branche am Leben zu erhalten.“ Biden sprach von einer „historischen Einigung“. Sie zeige, woran er immer geglaubt habe, dass nämlich „Arbeiter entscheidend dafür sind, die Wirtschaft von unten herauf aufzubauen“.

Ungewöhnliche Taktik

Der Streik dauerte für US-Verhältnisse und in dieser Branche extrem lange und wurde teils mit heftigen verbalen Schlagabtäuschen geführt. Es war das erste Mal in der Geschichte überhaupt, dass alle drei großen Detroiter Autofirmen gleichzeitig bestreikt wurden. UAW-Chef Fain setzte mit dieser Strategie alles auf eine Karte. Zusätzlichen Druck baute er auf, indem schrittweise immer weitere Fabriken bestreikt wurden – und die Ausweitung jeweils nur kurzfristig bekanntgegeben wurden.

Joe Biden unterstützt die Streikenden in Belleville, Michigan
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Biden solidarisierte sich mit den Streikenden

Fawn holte unter anderem drei Gewerkschaftsaktivisten von außerhalb und führte den Streik viel mehr als frühere Arbeitsausstände als öffentliche Debatte über Lohngerechtigkeit und die in den USA extrem weite Lohnschere. So engagierte er laut „Wall Street Journal“ unter anderen den 33-jährigen Jonah Furman, der als Pressesprecher zuvor für Senator Bernie Sanders und die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez gearbeitet hatte.

Vertrauensverhältnis zumindest angeknackst

Die Konzerne beklagten, noch nie sei ein Streik so aggressiv geführt worden – und wurden vom neuen Kommunikationsstil der UAW überrascht. Fawn informierte etwa wöchentlich in einem Livestream über den Stand der Verhandlungen. Die Konzernführungen und die Gewerkschaften werden wohl einiges an Anstrengung unternehmen müssen, um wieder ein belastbares Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Vorläufiger Höhepunkt

Der Erfolg der Autogewerkschaft ist der bisherige Höhepunkt in dem seit einiger Zeit anhaltenden Comeback von Gewerkschaften in den USA. Der Mangel an Arbeitskräften in vielen Branchen und Regionen des Landes gibt den Arbeitnehmervertretern so viel Macht in die Hand wie schon lange nicht.

Dazu kommt die hohe Inflation (wenn auch im europäischen Vergleich niedrig). Das erhöht den Druck auf die Gewerkschaften, entsprechend viel zu fordern. Wichtige Erfolge gelangen Gewerkschaften heuer Jahre etwa beim Paketdienst UPS und dem Krankenversicherer und Spitalsbetreiber Kaiser Permanente.

Dazu kommt der Mitte Juli begonnene gemeinsame Streik von mehr als 11.000 Drehbuchautorinnen und -autoren und mehr als 100.000 Schauspielerinnen und Schauspielern in Hollywood. Während es bei den Drehbuchautoren im September eine Einigung gab, befinden sich die Schauspieler weiter im Ausstand. Es ist die größte Unterbrechung im weitgehend lahmgelegten Film- und TV-Geschäft seit der CoV-Pandemie. Zuletzt hatten Schauspieler und Drehbuchautoren 1960 gemeinsam die Arbeit niedergelegt.

Mitglieder der UAW beim Streik
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Einer der erfolgreichsten Streiks der letzten Jahre

„Größte Streikwelle seit 1970er Jahren“

„Das wird die größte Streikwelle seit den 1970er Jahren“, war sich der Historiker Nelson Lichtenstein gegenüber der Wirtschaftsagentur Bloomberg bereits im Juli sicher. Er verwies auf ähnliche Trends auch in vielen anderen – etwa europäischen – Ländern, ausgelöst durch den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten, während gleichzeitig viele Unternehmen Rekordgewinne schreiben.

Unklar ist, ob der derzeitige Lauf der Gewerkschaften auch zu deren Stärkung und vermehrten Mitgliedschaften führt. Waren vor 50 Jahren noch rund 25 Prozent der Arbeiter und Angestellten in der US-Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert, sind es laut Bloomberg heute nur noch sechs Prozent. Hält der Schwung an, könnten auch Riesen, die gewerkschaftliche Organisation bisher ebenso aggressiv wie erfolgreich weitgehend verhindert haben, aufs Neue ins Visier geraten – allen voran Starbucks und Amazon.