Palästinenserin in einer Zeltstadt von Geflüchteten
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Israel – Ägypten

Umsiedlungspläne lasten auf Verhältnis

Die vor Kurzem noch vergleichsweise guten Beziehungen zwischen Israel und Ägypten haben durch den aktuellen Krieg gegen die Hamas schwere Dämpfer erlitten. Nun überlegt Israels Regierung offenbar, die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen auf die Sinai-Halbinsel umzusiedeln – was in Kairo auf schärfste Ablehnung stößt. Ägypten will keine weiteren Geflüchteten aufnehmen, Berichte vom Mittwoch machen aber zumindest Verwundeten Hoffnung, während sich die humanitäre Lage in Gaza weiter verschlechtert.

Aus dem israelischen Staatssekretariat für Geheimdienstfragen wurde ein Dokument bekannt, das die Umsiedlung aller 2,3 Millionen Menschen aus Gaza auf die Sinai-Halbinsel als eins von drei Szenarien vorschlägt. Die Behörde hat kein politisches Pouvoir, soll aber die Regierung durch Analysen und Vorschläge unterstützen. Nun wurde das Dokument, datiert mit dem 13. Oktober, der lokalen Nachrichtensite Sicha Mekomit geleakt und sorgte sofort für heftige Reaktionen.

In dem Bericht werden Optionen gewälzt, „um angesichts der Hamas-Verbrechen, die zum Krieg der eisernen Schwerter führten, eine signifikante Veränderung der zivilen Realität im Gazastreifen herbeizuführen“. Als „Krieg der eisernen Schwerter“ bezeichnen die israelischen Streitkräfte ihre Reaktion auf den Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober.

Das Dokument schlägt vor, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens in Zeltstädte auf die nördliche Sinai-Halbinsel zu verlegen und anschließend dauerhafte Städte und einen nicht näher definierten humanitären Korridor zu errichten. Innerhalb Israels würde eine Sicherheitszone eingerichtet, um die Vertriebenen am Zutritt zu hindern. Was in diesem Fall aus Gaza werden würde, wird in dem Dokument nicht beleuchtet.

Bevorzugte Variante

Die Urheber des Berichts sehen die Option der Umsiedelung als die wünschenswerte an. Auf den ersten Blick „könnte dieser Vorschlag im Hinblick auf die internationale Legitimität kompliziert sein“, hieß es im Dokument weiter. „Unserer Einschätzung nach würden Kämpfe nach der Evakuierung zu weniger zivilen Opfern führen, als bei einem Verbleib der Bevölkerung zu erwarten wäre.“

Die beiden anderen Überlegungen – die Wiedereinsetzung der im Westjordanland ansässigen Palästinensischen Autonomiebehörde als Souverän in Gaza oder die Unterstützung eines lokalen Regimes – werden abgelehnt. Diese würden keine Angriffe auf Israel verhindern.

Nur ein „Konzeptpapier“

Das Büro von Israels Premier Benjamin Netanjahu versuchte rasch, das Dokument herunterzuspielen. Es handle sich schlicht um ein hypothetisches „Konzeptpapier“. Der „Financial Times“ zufolge aber betreibt Netanjahu vor allem bei europäischen Regierungen Lobbyarbeit, um Ägypten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu überzeugen. Westliche Staaten schreiben Ägypten eine große Bedeutung als Vermittler zu.

Doch in Ägypten herrscht schon lange die Befürchtung, dass Israel Menschen aus Gaza auf die Sinai-Halbinsel bringen will. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi ließ auch schon bald nach dem 7. Oktober keine Zweifel daran, dass man keine weiteren Geflüchteten mehr aufnehmen werde.

Ägypten macht dicht

In der ägyptischen Führung gestaltet sich die Unterstützung für die „palästinensische Sache“ anders als in anderen arabischen Ländern. Zwar werden die Angriffe Israels auf Palästinenserinnen und Palästinenser als Zwangsmaßnahmen eines „Besatzungsstaates“ verurteilt. Andererseits wird aber laut betont, dass man Ägyptens Sicherheit und Interessen verteidigen werde – damit ist auch die Verweigerung weiterer Aufnahmen gemeint, im Land sind bereits neun Millionen Geflüchtete. Man will Hilfe für Gaza ermöglichen, aber die Grenze soll dicht bleiben.

Medizinische Hilfsgüter der UN
APA/AFP/Mahmud Hams
Inzwischen sollen rund 150 Lkws mit Hilfsgütern die Grenze passiert haben

Dazu, so meldete die Nachrichtenagentur AP, ergreife Ägypten derzeit auch „beispiellose Maßnahmen“, um die Grenze zu sichern. Eine massenhafte Grenzübertretung aus Gaza in Richtung Sinai hatte es schon 2008 gegeben. Damals durchbrachen Hamas-Anhänger den Grenzzaun, Hunderttausende flohen auf die Halbinsel. Bis heute gilt diese auch als Rückzugsort für Dschihadisten. Ein Szenario wie vor 15 Jahren will Sisi unbedingt vermeiden.

„Wenn die palästinensischen Bürger aus dem Gazastreifen auf den Sinai verlegt würden, dann verlegen wir die Idee vom Widerstand, die Idee vom Kampf von Gaza auf den Sinai. Und dann wird konsequenterweise der Sinai zur Operationsbasis gegen Israel. Und dann wird Israel dort das Recht haben, sich zu verteidigen“, so Sisi kürzlich. Am Dienstag bekräftigte Premier Mustafa Madbuli laut BBC, kein regionaler Konflikt dürfe auf Kosten Ägyptens gelöst werden.

Berichte: Palästinenser dürfen in Ägypten behandelt werden

Zumindest verletzte Palästinenser könnten allerdings bald nach Ägypten einreisen – vorübergehend. Nach Berichten von Mittwoch will Kairo verwundete Palästinenser in Ägypten medizinisch versorgen, wie mehrere Quellen gegenüber der Nachrichtenagentur AFP angaben.

Den Angaben nach will Ägypten die Verletzten aus dem Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah zur medizinischen Behandlung aufnehmen. „Medizinische Teams werden am Grenzübergang anwesend sein, um die (aus dem Gazastreifen, Anm.) kommenden Fälle zu untersuchen, sobald sie ankommen (…) und die Krankenhäuser festzulegen, in die sie geschickt werden“, sagte ein medizinischer Beamter gegenüber AFP. Auch Inhaber ausländischer Pässe sollen die Grenze passieren dürfen. An der Koordination sollen sich die USA beteiligen, vermittelt wurde der Deal von Katar.

Mehr als ein Dutzend ägyptische Krankenwagen fuhren zu einem Tor am Grenzübergang, wie auf Bildern des staatsnahen Fernsehsenders al-Kahira News zu sehen war. Laut dem Generalsekretär des ägyptischen Roten Halbmondes in Nordsinai, Raed Abdel Nasser, standen 40 Krankenwagen bereit. Al-Kahira News zufolge warteten diese im Transitbereich des Grenzübergangs auf der ägyptischen Seite.

Sisi sieht Negevwüste als Zielort

Der ägyptische Präsident überlegte zuletzt selbst laut, wohin die palästinensischen Geflüchteten sollen: in „die Negevwüste in Israel“. Denn von dort könnten die Menschen leichter wieder in den Gazastreifen zurückkehren, sobald Israel seine Operation gegen die Hamas beendet habe. In Ägypten wird im Dezember gewählt, und der Krieg gegen die Hamas in Israel wurde plötzlich zum Wahlkampfthema. Inmitten einer schweren Wirtschaftskrise sucht Sisi, die Ägypter hinter sich zu vereinen – auch mit der Sorge, die alten Konflikte könnten wieder aufleben.

Grafik zur territorialen Entwicklung Israels seit 1947
Grafik: APA/ORF

Auch für die Palästinenser wäre ein solcher Plan ein Trauma, das sie an die Entwurzelung im Gründungsjahr Israels 1948 erinnern würde. Damals flohen Hunderttausende vor den Kämpfen oder wurden aus ihren Häusern vertrieben.

„Wir sind gegen die Überstellung, gleich an welchen Ort oder in welcher Form auch immer, und wir halten es für eine rote Linie, deren Überschreitung wir nicht zulassen werden“, sagte Nabil Abu Rudeineh, Sprecher des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, laut „Times of Israel“. Was 1948 passiert sei, „darf sich nicht wiederholen“. Eine Massenvertreibung komme einer neuen Kriegserklärung gleich, so Rudeineh.

„Schwerwiegender Fehler“

Yoel Guzansky vom Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, sagte der „Times of Israel“, der israelische Bericht sei „ein schwerwiegender Fehler“, denn er drohe die Beziehungen zu einem wichtigen Partner zu beschädigen. „Das könnte zu einer strategischen Kluft zwischen Israel und Ägypten führen.“ Er sehe „darin entweder Unwissenheit oder jemanden, der die israelisch-ägyptischen Beziehungen, die in dieser Phase sehr wichtig sind, negativ beeinflussen will“.

Cupal (ORF) zur humanitären Situation in Gaza

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet unter anderem über die anstehenden humanitären Hilfslieferungen nach Gaza.

Ägypten sei ein wertvoller Partner, der hinter den Kulissen mit Israel zusammenarbeite. Wenn man den Eindruck erweckt, dass es einen solchen israelischen Plan, insbesondere unter Einbeziehung der Palästinenser, offen unterstützt, könnte das „zerstörerische Folgen für die Stabilität haben“.

Kein Essen, kein Treibstoff, kein Netz

Die Frage der humanitären Lage in Gaza verschärft sich unterdessen weiter. Das zeigte schon der Aufruhr am Wochenende, nachdem Tausende Menschen in Hilfslager der UNO eingebrochen waren, um sich Lebensmittel zu holen. Am Grenzübergang Rafah trafen am Dienstag weitere 26 Lastwagen mit dringend benötigten Hilfsgütern ein, wie der palästinensische Rote Halbmond mitteilte.

Nach israelischen Angaben standen am Dienstagmorgen weitere 80 Lkws zur Kontrolle bereit. „Das ist die größte Lieferung von Hilfsgütern seit Beginn des Krieges“, teilte die zuständige israelische Behörde Cogat auf Twitter (X) mit. Inzwischen sollen insgesamt 150 Lkws die Grenze passiert haben, laut den Hilfsorganisationen wird diese Menge jedoch täglich benötigt, um die Menschen in Gaza mit dem Nötigsten zu versorgen.

Dort gibt es seit Wochen keine zentrale Stromversorgung, Israel verbietet weiterhin die Einfuhr von Treibstoff für den Betrieb von Notstromaggregaten für Krankenhäuser und Privathaushalte. Am Mittwoch gab es erneut einen kompletten Kommunikationsausfall, sämtliche Internet- und Mobilfunkkommunikation wurde unterbrochen. Es ist bereits der zweite Ausfall dieser Art im Gazastreifen binnen weniger als einer Woche. Laut Israel wurden zuletzt zwei Hauptwasserleitungen in Gaza wieder in Betrieb genommen, laut UNO aber ist eine davon nicht mehr funktionsfähig, auch die andere sei beschädigt.

Evakuierungsbefehl erneuert

Israel hatte die Aufforderung, den Norden des Küstenstreifens zu evakuieren, erneuert. Auch alle 13 im Norden tätigen Krankenhäuser erhielten in den vergangenen Tagen israelische Evakuierungsbefehle. Mehr als 800.000 Menschen verließen inzwischen laut UNO den Norden. Hunderttausende suchen Unterkunft in Spitälern oder den überfüllten Schulen der Vereinten Nationen, die zu Notunterkünften umgebaut wurden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nannte die Lage in Gaza am Dienstag eine drohende „Katastrophe für die öffentliche Gesundheit“. Ein Sprecher des UNO-Kinderhilfswerks (UNICEF) bezeichnete Gaza gar als "Friedhof für Kinder“. Ohne Lieferungen von Treibstoff, Medikamenten, Wasser und Lebensmitteln könnten die aktuellen Todeszahlen bald „nur die Spitze eines Eisbergs sein“.