verletzter Palästinenser auf einer Trage
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Grenze geöffnet

Erste Verletzte aus Gazastreifen in Ägypten

Erste Verletzte aus dem Gazastreifen sind am Mittwoch zur Behandlung über die Grenze nach Ägypten gebracht worden. Ägyptische TV-Sender zeigten Bilder von Krankenwagen, die den erstmals für Personen geöffneten Grenzübergang Rafah überquerten. Ausländer konnten ebenfalls nach Ägypten ausreisen, auch 31 Österreicher und Österreicherinnen sind darunter.

Eine Gruppe von Verletzten verließ nach Berichten ägyptischer TV-Sender wie dem staatsnahen al-Kahira News den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah – den einzigen Zugang über nicht israelisches Territorium. Sie seien zur Behandlung in die Stadt al-Arisch auf der Sinai-Halbinsel an der Mittelmeer-Küste gebracht worden, hieß es am Nachmittag.

Laut einem ersten Plan durften rund 90 schwer verletzte Palästinenserinnen, Palästinenser und rund 400 Menschen mit ausländischem Pass die Grenze passieren. Es sollen zuletzt an die 200 Menschen an der Grenze auf ihre Ausreise gewartet haben, es gab Berichte über eine Liste von bis zu 500 Personen. Zuletzt war lediglich für Hilfskonvois die Durchfahrt von Ägypten aus in den Gazastreifen genehmigt worden.

Ausreise nach über drei Wochen

Am Mittwoch zeigten nun ägyptische Fernsehsender Livebilder von Rettungswagen, welche die Grenze in Rafah in Richtung Gazastreifen überquerten und diese später wieder in umgehrter Richtung passierten. Dutzende Verletzte und mehr als 100 ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hätten nach Ägypten ausreisen dürfen, berichtete die BBC Mittwochnachmittag.

Der Ägyptische Rote Halbmond bestätigte der dpa am frühen Abend die Einreise von 285 Personen. Insgesamt 525 Ausländer und Palästinenser mit einer weiteren Staatsangehörigkeit sollten noch am Mittwoch ausreisen können, hieß es. Das Außeministerium bestätigte am Abend, dass auch 31 Österreicherinnen und Österreicher den Gazastreifen verlassen konnten.

Unter denjenigen, die ebenfalls ausreisen konnten, waren laut Augenzeugen und dem Roten Halbmond Bürgerinnen und Bürger mit der Staatsangehörigkeit Österreichs, der USA, Kanadas, Finnlands, Tschechiens, Bulgariens sowie Japans, Australiens und Indonesiens. Auch Menschen aus Ägypten, Jordanien und Algerien warteten auf eine Ausreise. Deutschland bestätigte ebenfalls die Ausreise einiger Staatsbürger.

verletzte Palästinenser in einem Rettungswagen
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Neben verletzten Zivilisten durften erstmals auch ausländische (Doppel-)Staatsbürger nach Ägypten ausreisen

Internationale Vermittlung

Schon seit Dienstagabend hatten sich Berichte verdichtet, wonach Ägypten den Grenzübergang öffnen könnte. Kairo wolle verwundete Palästinenser in Ägypten medizinisch versorgen, wie mehrere Quellen gegenüber der Nachrichtenagentur AFP angaben. Ägypten, Israel und die Hamas hatten sich einem Insider zufolge unter Vermittlung Katars darauf geeinigt, Inhabern ausländischer Pässe und einigen Schwerverletzten zu erlauben, den Gazastreifen zu verlassen. Ägypten soll eine Liste mit 4.000 Verletzten übermittelt worden sein, zitierte AFP einen Hamas-Sprecher.

Menschen überqueren den Grenzübergang in Rafah
APA/AFP/Mohammed Abed
Zahlreiche Menschen kamen zum Grenzübergang Rafah

Die USA sollen sich an der Koordination beteiligen, heißt es. Am Dienstagabend hatte ein Sprecher des US-Außenministeriums von „sehr guten Fortschritten“ bei der Frage der Ausreise von US-Bürgern aus dem Gazastreifen gesprochen.

Unterdessen soll es bei neuen Angriffen Israels auf das Flüchtlingslager Dschabalja im Gazastreifen laut Hamas Dutzende Tote und Verletzte gegeben haben. Die Angaben konnten zunächst nicht unabhängig bestätigt werden. Schon am Dienstag gab es einen Angriff mit zahlreichen Toten. Die israelische Armee erklärte, Ziel des Angriffs seien Hamas-Stellungen gewesen, unter den Toten sei ein Hamas-Kommandeur. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths verurteilte den Angriff vom Dienstag scharf.

Ägypten machte Grenzen dicht

Es ist das erste Mal seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, dass der Grenzübergang Rafah auch für Menschen geöffnet wurde: Ägypten lehnte bisher eine Grenzöffnung ab. In der ägyptischen Führung gestaltet sich die Unterstützung für die „palästinensische Sache“ anders als in anderen arabischen Ländern.

Medizinische Hilfsgüter der UN
APA/AFP/Mahmud Hams
Inzwischen sollen rund 150 Lkws mit Hilfsgütern die Grenze passiert haben

Zwar werden die Angriffe Israels auf Palästinenserinnen und Palästinenser als Zwangsmaßnahmen eines „Besatzungsstaates“ verurteilt. Andererseits wird aber laut betont, dass man Ägyptens Sicherheit und Interessen verteidigen werde – damit ist auch die Verweigerung weiterer Aufnahmen gemeint, im Land sind bereits neun Millionen Geflüchtete. Man will Hilfe für Gaza ermöglichen, aber die Grenze soll dicht bleiben. Dazu, so meldete die Nachrichtenagentur AP, ergreife Ägypten derzeit auch „beispiellose Maßnahmen“, um die Grenze zu sichern.

Umsiedlungspläne lasten auf Verhältnis

Die vor Kurzem noch vergleichsweise guten Beziehungen zwischen Israel und Ägypten erlitten durch den aktuellen Krieg gegen die Hamas schwere Dämpfer. Nun überlegt Israels Regierung offenbar, die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen auf die Sinai-Halbinsel umzusiedeln – was in Kairo auf schärfste Ablehnung stößt.

Gaza: Personen passieren ägyptische Grenze

Es ist das erste Mal seit dem Angriff der Hamas auf Israel, dass der Grenzübergang Rafah für Menschen geöffnet worden ist. Eine Gruppe von Ausländerinnen und Ausländern verließ den Gazastreifen Richtung Ägypten. Außerdem wurden Verletzte aus dem Gebiet mit Krankenwagen über die Grenze gebracht.

Aus dem israelischen Staatssekretariat für Geheimdienstfragen wurde ein Dokument bekannt, das die Umsiedlung aller rund 2,3 Millionen Menschen aus Gaza auf die Sinai-Halbinsel als eines von drei Szenarien vorschlägt. Die Behörde hat kein politisches Pouvoir, soll aber die Regierung durch Analysen und Vorschläge unterstützen. Nun wurde das Dokument, datiert mit dem 13. Oktober, der lokalen Nachrichtenseite Sicha Mekomit geleakt und sorgte sofort für heftige Reaktionen.

In dem Bericht werden Optionen gewälzt, „um angesichts der Hamas-Verbrechen, die zum Krieg der eisernen Schwerter führten, eine signifikante Veränderung der zivilen Realität im Gazastreifen herbeizuführen“. Als „Krieg der eisernen Schwerter“ bezeichnen die israelischen Streitkräfte ihre Reaktion auf den Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober.

Das Dokument schlägt vor, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens in Zeltstädte auf die nördliche Sinai-Halbinsel zu verlegen und anschließend dauerhafte Städte und einen nicht näher definierten humanitären Korridor zu errichten. Innerhalb Israels würde eine Sicherheitszone eingerichtet, um die Vertriebenen am Zutritt zu hindern. Was in diesem Fall aus Gaza werden würde, wird in dem Dokument nicht beleuchtet.

Bevorzugte Variante

Die Urheber des Berichts sehen die
Option der Umsiedelung als die wünschenswerte an. Auf den ersten Blick „könnte dieser Vorschlag im Hinblick auf die internationale Legitimität kompliziert sein“, hieß es im Dokument weiter. „Unserer Einschätzung nach würden Kämpfe nach der Evakuierung zu weniger zivilen Opfern führen, als bei einem Verbleib der Bevölkerung zu erwarten wäre.“

Die beiden anderen Überlegungen – die Wiedereinsetzung der im Westjordanland ansässigen Palästinensischen Autonomiebehörde als Souverän in Gaza oder die Unterstützung eines lokalen Regimes – werden abgelehnt. Diese würden keine Angriffe auf Israel verhindern.

Nur ein „Konzeptpapier“

Das Büro von Israels Premier Benjamin Netanjahu versuchte rasch, das Dokument herunterzuspielen. Es handle sich schlicht um ein hypothetisches „Konzeptpapier“. Der „Financial Times“ zufolge aber betreibt Netanjahu vor allem bei europäischen Regierungen Lobbyarbeit, um Ägypten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu überzeugen. Westliche Staaten schreiben Ägypten eine große Bedeutung als Vermittler zu.

Doch in Ägypten herrscht schon lange die Befürchtung, dass Israel Menschen aus Gaza auf die Sinai-Halbinsel bringen will. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi ließ auch schon bald nach dem 7. Oktober keine Zweifel daran, dass man keine weiteren Geflüchteten mehr aufnehmen werde.

„Wenn die palästinensischen Bürger aus dem Gazastreifen auf den Sinai verlegt würden, dann verlegen wir die Idee vom Widerstand, die Idee vom Kampf von Gaza auf den Sinai. Und dann wird konsequenterweise der Sinai zur Operationsbasis gegen Israel. Und dann wird Israel dort das Recht haben, sich zu verteidigen“, so Sisi kürzlich. Am Dienstag bekräftigte Premier Mustafa Madbuli laut BBC, kein regionaler Konflikt dürfe auf Kosten Ägyptens gelöst werden.

Sisi sieht Negev-Wüste als Zielort

Der ägyptische Präsident überlegte zuletzt selbst laut, wohin die palästinensischen Geflüchteten sollen: in „die Negev-Wüste in Israel“. Denn von dort könnten die Menschen leichter wieder in den Gazastreifen zurückkehren, sobald Israel seine Operation gegen die Hamas beendet habe. In Ägypten wird im Dezember gewählt, und der Krieg gegen die Hamas in Israel wurde plötzlich zum Wahlkampfthema. Inmitten einer schweren Wirtschaftskrise sucht Sisi, die Ägypter hinter sich zu vereinen – auch mit der Sorge, die alten Konflikte könnten wieder aufleben.

Grafik zur territorialen Entwicklung Israels seit 1947
Grafik: APA/ORF

Auch für die Palästinenser wäre ein solcher Plan ein Trauma, das sie an die Entwurzelung im Gründungsjahr Israels 1948 erinnern würde. Damals flohen Hunderttausende vor den Kämpfen oder wurden aus ihren Häusern vertrieben.

„Wir sind gegen die Überstellung, gleich an welchen Ort oder in welcher Form auch immer, und wir halten es für eine rote Linie, deren Überschreitung wir nicht zulassen werden“, sagte Nabil Abu Rudeineh, Sprecher des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, laut Times of Israel. Was 1948 passiert sei, „darf sich nicht wiederholen“. Eine Massenvertreibung komme einer neuen Kriegserklärung gleich, so Rudeineh.

„Schwerwiegender Fehler“

Joel Gusansky vom Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv sagte der Times of Israel, der israelische Bericht sei „ein schwerwiegender Fehler“, denn er drohe die Beziehungen zu einem wichtigen Partner zu beschädigen. „Das könnte zu einer strategischen Kluft zwischen Israel und Ägypten führen.“ Er sehe „darin entweder Unwissenheit oder jemanden, der die israelisch-ägyptischen Beziehungen, die in dieser Phase sehr wichtig sind, negativ beeinflussen will“.

Cupal (ORF) zur humanitären Situation in Gaza

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet unter anderem über die anstehenden humanitären Hilfslieferungen nach Gaza.

Ägypten sei ein wertvoller Partner, der hinter den Kulissen mit Israel zusammenarbeite. Wenn man den Eindruck erweckt, dass es einen solchen israelischen Plan, insbesondere unter Einbeziehung der Palästinenser, offen unterstützt, könnte das „zerstörerische Folgen für die Stabilität haben“.