Ukrainischer Panzer
Reuters/Gleb Garanich
Ukraine

„Pattsituation“ im Abnutzungskrieg

Der Krieg in der Ukraine hält seit mehr als eineinhalb Jahren an. Russische Soldaten besetzen weiterhin Gebiete im Osten des Landes, die Ukraine will diese zurückerobern. Doch weder die eine noch die andere Seite scheint derzeit vorwärts zu kommen. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte spricht von einer „Pattsituation“, Moskau will davon nichts wissen.

Seit 2021 kommandiert General Walerij Saluschnyj die ukrainische Armee, seit Februar 2022 befindet er sich im Krieg gegen Russland. In unregelmäßigen Abständen meldet sich Saluschnyj in internationalen Medien zu Wort. Manchmal spricht er von Erfolgen der ukrainischen Armee, manchmal von Rückschlägen.

Als im Frühjahr dieses Jahres vermehrt von einer ukrainischen Gegenoffensive die Rede war, diese aber auf sich warten ließ, sagte der General zur „Washington Post“, dass ihn die Analysen, die der Ukraine ein zu langsames Vorgehen attestierten, „nerven“. Es sei „keine Show, bei der die ganze Welt zuschaut und Wetten abschließt. Jeder Tag, jeder Meter wird mit Blut gefüllt.“

Ukrainischer General Walerij Saluschnyj
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Saluschnyj warnt vor einem Stellungskrieg. Dieser könnte nicht nur dem Militär, sondern auch dem Staat schaden.

Militärische Maßnahmen könnten nicht durchgeführt werden, wenn es an der Versorgung mangelt, sagte Saluschnyj Richtung Westen. Der General beklagte die fehlende Luftunterstützung, die den ukrainischen Vormarsch verlangsame. Nach einiger Zeit gelang es dem Militär, in den Osten vorzurücken. Der Durchbruch lässt aber auf sich warten, wie Saluschnyj in einem aktuellen Interview betonte. Vielmehr befinde man sich derzeit in einer „Pattsituation“, die schwierig zu lösen sei.

„Enorme Risiken für Streitkräfte und Staat“

Seit 20 Monaten wehrt die Ukraine eine russische Invasion ab. Entlang der fast 1.000 Kilometer langen Front im Osten und Süden des Landes verzeichnete der ukrainische Generalstab zahlreiche Bodengefechte. In „The Economist“ warnte Saluschnyj vor dem Stellungskrieg, in dem man aktuell verharre. „Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat“, sagte der General. Stillstand auf dem Schlachtfeld helfe nur Russland, die Verluste seiner Armee auszugleichen.

Moskau will von davon allerdings nichts wissen. Saluschnyj liege falsch, wenn er davon spreche, dass der Konflikt in der Ukraine auf eine neue Phase statischer Kämpfe zusteuere, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Russland werde all seine Ziele erreichen. Kiew müsse begreifen, „dass es absurd ist, auch nur von einer Aussicht auf einen Sieg auf dem Schlachtfeld zu sprechen“, sagte Peskow, als er auf die Aussagen des ukrainischen Militärs angesprochen wurde.

Erinnerungen an das Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs

Im Gegensatz zu Moskau zeigte sich der ukrainische Oberbefehlshaber selbstkritisch. Seine Annahme, man könnte die russischen Truppen in einem „Abnutzungskrieg“ aufhalten, sei falsch gewesen. „Das war mein Fehler. Russland hat mindestens 150.000 Soldaten verloren. In jedem anderen Land hätten solche Verluste den Krieg beendet. Aber nicht in Russland, wo das Leben billig ist und wo Wladimir Putins Bezugspunkte im Ersten und Zweiten Weltkrieg liegen, in denen Russland Dutzende von Millionen Soldaten verloren hat.“

Ukrainischer Panzer
Reuters
Seit Februar 2022 verteidigt sich die Ukraine gegen Russland

Die ukrainische Armee hätte sich wesentlich schneller Richtung Osten bewegen können. „Wenn man sich die Lehrbücher der NATO und die Berechnungen ansieht, die wir angestellt haben, hätten vier Monate ausreichen müssen, um die Krim zu erreichen, auf der Krim zu kämpfen, von der Krim zurückzukehren und wieder hinein und wieder hinaus zu gehen“, sagte der General. Stattdessen sei die Gegenoffensive in den Minenfeldern im Osten und Süden stecken geblieben.

Zunächst habe er gedacht, dass mit den Kommandeuren etwas nicht stimmt, also habe er einige von ihnen ausgetauscht, sagte Saluschnyj, auch Soldaten habe er versetzt. Aber als der gewünschte Erfolg ausblieb, habe der Oberbefehlshaber ein Militärbuch eines sowjetischen Generals holen lassen. Darin seien Schlachten des Ersten Weltkriegs analysiert worden. Schon nach der Hälfte der Lektüre sei ihm klar geworden, dass man sich wegen der Technologie auf beiden Seiten in einer „Sackgasse“ befinde. „Auf dem Schlachtfeld sehen wir alles, was der Feind tut, und der Feind sieht alles, was wir tun.“

Pattsituation nicht für immer

Aus diesem Patt komme man nur mit „etwas Neuem“ heraus, mit einem „massiven Technologiesprung“, sagte Saluschnyj. Verbesserte Drohnen müssten den aktuellen Mangel an Kampfflugzeugen – mit den versprochenen Kampfjets vom Typ F-16 aus verschiedenen Ländern kann Kiew erst im kommenden Jahr rechnen – ausgleichen. Der Schlüssel zu einem Erfolg im Drohnenkrieg sei eine verbesserte elektronische Kampfführung, um russische Fluggeräte zu stören und abzufangen. Russland sei in diesem Punkt überlegen.

Warnung vor Stellungskrieg in der Ukraine

Der Oberbefehlshaber der ukrainische Armee, Walerij Saluschnyj, warnt vor den Folgen eines Stellungskrieges

Die ukrainische Armee müsse auch besser ausgestattet werden, um russische Artilleriestellungen zu bekämpfen. „Derzeit haben wir mit Russland eine Pattsituation durch kleinere, aber genauere Feuerkraft erreicht. Doch das wird nicht andauern“, schrieb der General in einem Beitrag, den er „The Economist“ zur Verfügung stellte. Weiter brauche die Ukraine moderne Ausrüstung zum Minenräumen, weil die russische Armee bis zu 20 Kilometer tiefe Minengürtel angelegt habe.

Dass sich die Militärhilfen aus dem Westen verzögern, sei frustrierend, aber nicht die Hauptursache des Dilemmas der Ukraine. „Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Krieg nicht mit den Waffen der vergangenen Generation und veralteten Methoden gewonnen werden kann“, sagte Saluschnyj. Allerdings gebe es nach Ansicht des Generals derzeit keine Anzeichen, dass ein technologischer Durchbruch vor der Türe steht. Im Ersten Weltkrieg sei es zu Meutereien gekommen, bis die Technik die Pattsituation auflösen konnte. Ein Zusammenbruch der Moral in der ukrainischen Armee sei genau das, worauf Putin setze.

Selenskyj geht nicht auf General ein

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte in seiner täglichen Videobotschaft am Donnerstagabend das neue US-Sanktionspaket gegen Russland als „sehr kraftvoll“. Wichtige Bereiche der Wirtschaft des Aggressors seien nun mit Strafmaßnahmen belegt. Er zeigte sich zudem einmal mehr siegessicher. „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine definitiv gewinnen wird“, sagte er.

Ukrainische Medien, die in aller Regel keine Kritik an Selenskyj üben, hoben ausdrücklich hervor, dass der Präsident in seiner Videobotschaft nicht auf die vielbeachteten Aussagen des ukrainischen Oberkommandierenden Saluschnyj reagiert habe, laut denen der Abnutzungskrieg in die Sackgasse geraten sei.

Selenskyj meinte vielmehr, dass Russland im Schwarzen Meer allmählich die Kontrolle verliere und sich dort in die östlichen Regionen zurückziehe. „Wir werden sie auch dort erreichen“, sagte er. Russland hingegen betont immer wieder, die Kontrolle in den Gewässern zu haben, und fliegt dort etwa auch mit Kampfflugzeugen Patrouillen.