Menschen blicken aus einer Fensteröffnung in Jabalia
APA/AFP/Bashar Taleb
Gazas Flüchtlingscamps

Unterschlupf und Kriegsschauplatz

Die Explosionen im Flüchtlingslager Dschabalja im Gazastreifen haben für Empörung gesorgt. Die israelische Armee bestätigte zwei Luftschläge binnen weniger Tage. Dschabalja sei eine Hochburg der Hamas, man habe ranghohe Kommandanten töten können, betonte das Militär. Gleichzeitig sollen Dutzende Zivilisten ums Leben gekommen sein. Im Krieg verschärft sich die Situation der Menschen in den dicht besiedelten Camps.

Im Gegensatz zu vielen Flüchtlingslagern auf der Welt ist Dschabalja keine Zeltstadt. Das Lager besteht aus Betonblockhäusern, die zum Großteil von den Heimischen selbst erbaut und erweitert worden sind. Auf Bildern waren nach den Angriffen eingestürzte Gebäude zu sehen und Leichen, die aus den Trümmern getragen wurden. Israel sagte, dass die von der Hamas unter den Gebäuden errichteten Tunnel, die bei den Angriffen zusammengestürzt seien, mitverantwortlich für das Ausmaß der Zerstörung sind.

Vor allem aus arabischen Staaten tönte scharfe Kritik Richtung Israel. Auch der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, zeigte sich „entsetzt“ über den Angriff auf das Lager. Zugleich betonte er, Israel habe das Recht zur Selbstverteidigung, aber eben im Rahmen des humanitären Völkerrechts. Auch die USA teilten mit, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen, und gleichzeitig verantwortlich für den Schutz der Zivilbevölkerung sei.

Zerstörte Gebäude im Jabalia-Flüchtlingslager nach einem israelischen Treffer
Reuters/Anas Al-Shareef
Nach einer Explosion stürzten Gebäude im Flüchtlingslager ein, laut Israel befanden sich darunter auch Hamas-Tunnel

Israel hat die Zivilbevölkerung in Gaza mehrmals aufgefordert, zu ihrer eigenen Sicherheit in den Süden zu fliehen. „Unser Kampf gilt der Hamas, nicht den Menschen in Gaza. Die Hamas nutzt die Menschen in Gaza als Schutzschilde, indem sie sich in Schulen und Krankenhäusern einnistet“, so das Militär. Die Vereinten Nationen halten den Plan, die Zivilisten und Zivilistinnen aus dem Norden in den Süden zu bringen, für praktisch unmöglich. Viele Menschen blieben in ihren Häusern in den Flüchtlingssiedlungen.

Ein dauerhaftes Provisorium

Der Gazastreifen gilt als eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Seit 2007 ist die radikalislamische Hamas im Küstenstreifen an der Macht. Die Bevölkerung lebt in großer Armut. Laut Angaben des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA sind aktuell mehr als zwei Drittel der rund 2,1 Millionen Einwohner registrierte palästinensische Flüchtlinge, viele von ihnen wohnen in den Flüchtlingscamps. Ihre Vorfahren waren seit 1948 wegen der Kriege in den Gazastreifen geflohen. Für die Vertriebenen wurden seither acht Flüchtlingslager errichtet.

Jabalia-Flüchtlingslager, 1957
AP
1957 sah das Flüchtlingscamp Dschabalja noch provisorisch aus

1950 startete UNRWA Programme, um für die Schulbildung der Kinder und Jugendlichen zu sorgen sowie Gesundheitsdienste für die Bewohner und Bewohnerinnen anzubieten. Die UNO-Behörde reagierte auf die Bedürfnisse von etwa 750.000 Flüchtlingen. Als klar wurde, dass die Vertriebenen länger bleiben werden, sei das provisorische System der Lager auf permanente Wohnsiedlungen umgestellt worden, berichtete jüngst „The Economist“. Später wurden Häuser aus Lehm und aus Beton gebaut sowie Straßen angelegt.

Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner in den Flüchtlingslagern stieg stetig an. Zum einen bot die Infrastruktur Wohnmöglichkeiten, zum anderen gilt die Geburtenrate als eine der höchsten weltweit. Das führte aber auch dazu, dass sich die Lager unreguliert erweiterten. Die Bewohner und Bewohnerinnen errichteten nach eigenem Ermessen neue Stockwerke und Gebäude, Gassen und Straßen wurden dadurch noch enger, die Häuser instabiler. Heute nehmen mehrere Millionen Menschen die Hilfe von UNRWA in Anspruch.

Grafik zur Lage im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW/WarMapper

Schlechtere Bedingungen seit Hamas-Übernahme

Dschabalja ist das größte Flüchtlingslager im Gazastreifen. Es wurde 1948 in der Nähe der gleichnamigen Stadt in Nordgaza errichtet. Das Lager ist weder mit Zäunen noch mit anderen Barrieren von der Umgebung abgetrennt. Die Einwohner und Einwohnerinnen können sich grundsätzlich frei bewegen, was in anderen Flüchtlingslagern der Welt kaum möglich ist. Heute umfasst das Lager eine Fläche von 1,4 Quadratkilometern, auf denen nach Angaben der UNO 116.000 Menschen registriert sind. Die Wohnsituation gilt als dramatisch.

Bereits vor dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf israelische und ausländische Zivilisten und Zivilistinnen hätten die Bedingungen in den Lagern zu den schlechtesten in der gesamten Region gehört, wird Anne Irfan von der „Washington Post“ zitiert. Irfan lehrt in London und ist Expertin auf Gebiet der palästinensischen Flüchtlingsgeschichte. „Die sozioökonomischen Bedingungen im Gazastreifen haben sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten verschlechtert“, betonte Irfan und weist somit auf die Machtübernahme durch die Hamas hin.

Grafik zu Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: dpa, OCHA

Und Dschabalja gilt als Hochburg der Hamas. Das Flüchtlingslager ist Zufluchtsort für deren Kämpfer und Unterstützer. 1987 war Dschabalja Schauplatz des Ausbruchs der Ersten Intifada, des palästinensischen Aufstandes gegen die israelische Besatzung. Zuvor waren vier Palästinenser bei Zusammenstößen mit dem israelischen Militär gestorben – drei davon stammten aus dem Flüchtlingslager. Es kam zu Massendemonstrationen und Ausschreitungen. 2005 zog sich Israel militärisch aus dem Gazastreifen zurück.

Israel: Ziel ist Tunnelsystem

Die Hamas habe kein Interesse daran, die Situation in den Lagern zu verbessern, sagen Fachleute. Vielmehr würden sie die UNO-Gebäude weiterhin dafür nutzen, um sich unter den Palästinensern zu verstecken und Raketen auf Israel abzufeuern. Die Infrastruktur der Hamas ist vor allem in einem weitläufigen Tunnelsystem organisiert, das das israelische Militär im Visier hat. Die laufende Bodenoffensive des israelischen Militärs konzentriert sich zunehmend auf den Norden des Küstenstreifens.

Zwei Kinder auf einem Fahrrad im Nuseirat-Flüchtlingslager
APA/AFP/Mohammed Abed
Nach Ansicht der UNO ist die humanitäre Lage in den Camps katastrophal

Die Angriffe auf das Flüchtlingslager Dschabalja begründete die Armee ebenfalls mit dem Tunnelsystem. Die Hamas verschanze sich hinter ziviler Infrastruktur, „die Hamas will dieses Bild der Zerstörung“, sagte ein Militärsprecher. Man sei sich des Dilemmas aber bewusst. Denn einerseits würde die Armee wissen, dass sich in der Gegend noch immer Zivilisten und Zivilistinnen aufhielten – obwohl das Gebiet aufgrund der Präsenz der Hamas als „rote Zone“ ausgewiesen sei. Zugleich sei die Aktivität der Hamas in dem Flüchtlingslager für die israelische Armee eine Bedrohung, auf die sie reagieren müsse.

Die Hamas hatte am 7. Oktober einen großangelegten Angriff auf Israel begonnen, bei dem nach israelischen Angaben rund 1.400 Menschen getötet wurden, darunter überwiegend Zivilisten und Zivilistinnen. Mehr als 240 Menschen wurden aus Israel von Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen verschleppt. Durch Israels Gegenangriffe im Gazastreifen wurden laut nicht unabhängig überprüfbaren Angaben der Hamas bisher mehr als 9.000 Menschen getötet.