Jahja Sinwar, der Leiter der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Hamas-Führer Sinwar

Israels schwere Fehleinschätzung

Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober steht er ganz oben auf der „Most Wanted“-Liste Israels: Jahja Sinwar, der 61-jährige Chef der Hamas in Gaza. Er gilt als „Mastermind“ des offenbar seit Jahren geplanten Angriffs mit rund 1.400 Toten in Israel. Und ausgerechnet bei Sinwar unterlief Israels politischen und militärischen Entscheidungsträgern eine schwere Fehleinschätzung.

Nach Angaben des israelischen Verteidigungsministers Joav Galant von Dienstagabend wurde Sinwar durch den Einsatz der israelischen Bodentruppen in seinem Bunker isoliert. Seine Befehlskette schwäche sich ab, so Galant. Für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist Sinwar seit dem 7. Oktober ein „dead man walking“, und Galant warnte Sinwar – und den Chef der Al-Kassam-Brigaden, Mohammed Deif – man werde sie in Gaza „finden und eliminieren“.

Dabei hatte Israel jahrelang in der Überzeugung agiert, Sinwar sei zwar radikal und wolle Israels Ende, aber zugleich auch ein Realpolitiker, zumindest mit dem Interesse, die eigene Herrschaft beziehungsweise jene der Hamas abzusichern.

Jahja Sinwar nach seiner Entlassung aus israelischer Gefangenschaft im Oktober 2011
APA/AFP/Said Khatib
Sinwar nach seiner Befreiung aus der Haft 2011

Mit Deals – wie der Erteilung von mehr Arbeitsgenehmigungen, der Erlaubnis an Katar, in Koffern Geld in Millionenhöhe an die Hamas zu liefern, damit sie ihre Leute entlohnen kann, und einer Linderung der Blockade von Gaza – glaubten Netanjahu und auch die militärische Führung, die militärische Auseinandersetzung mit der Hamas zumindest in den gewohnten Grenzen halten zu können: also zeitweise Angriffe mit Ballonen, selbst gebaute Raketen und vereinzelte Trupps, die nach Israel einzudringen versuchen.

Netanjahus „Konzept“

Geblendet wurde Netanjahu dabei von seinem eigenen, seit mehr als 20 Jahren verfolgten „Konzept“, so das Gros der Kommentatorinnen und Kommentatoren in Israel in seltener Einigkeit: Man müsse Hamas bis zu einem gewissen Maß stärken, um so die gemäßigte Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu schwächen und damit internationalem Druck für eine politische Lösung des Nahost-Konflikts das Wasser abzugraben. Letzteres funktionierte tatsächlich, hat sich aber nun in den Augen eines Großteils der Israelis – darunter auch Netanjahu-Wähler – als folgenschwerer strategischer Fehler erwiesen, den rund 1.400 Menschen in Israel mit dem Leben bezahlen mussten.

Denn am „schwarzen Schabbat“ des 7. Oktober zeigte sich, dass all die Taktiken, derer sich die Hamas in den letzten Jahren bediente, Einzelteile des von langer Hand geplanten Angriffs waren und alles scheinbare Eingehen Sinwars auf Verhandlungen über Erleichterungen nur dazu diente, sich gemäß dem „Konzept“ und den Erwartungen der Israelis zu verhalten und sie so in Sicherheit zu wiegen.

Viermal verurteilt

Sinwar kam im Flüchtlingslager Chan Junis im Süden des Gazastreifens zur Welt, seine Familie stammte aus dem heute israelischen Aschkelon. Sinwar studierte an der Islamischen Universität in Gaza Arabistik und politisierte sich in dieser Zeit. 1987, während der ersten Intifada, gehörte er zu den Gründern des militärischen Arms der Hamas.

Er wurde mehrmals zu lebenslanger Haft verurteilt – unter anderem wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten und der Ermordung von zwölf Palästinensern. Denn Sinwar führte den internen Sicherheitsapparat Madschd (dt.: Ehre) an, der Kollaborateure in den eigenen Reihen ausfindig machte und eliminierte.

Die Israelis „wollten, dass das Gefängnis zu unserem Grab wird. (…) Aber dank Gottes und unseres Glaubens in unsere Sache verwandelten wir das Gefängnis in Gebetshäuser und Lernstätten“, so Sinwar laut „New York Times“ einst über die Haft.

Palästinenser durchbrechen am 7. Oktober 2023 den Grenzzaun zu Israel
Reuters/Mohammed Fayq Abu Mostafa
Unter anderem mit Baggern wurde am 7. Oktober der Grenzzaun nach Israel durchbrochen

Israel genau studiert

23 Jahre saß er insgesamt in Israel im Gefängnis, wo er auch Hebräisch lernte und Israel studierte, indem er etwa Biografien über Menachem Begin und Jizchak Rabin las. „Er hat uns vom Anfang bis zum Ende genauestens studiert“, so ein ehemaliger Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienst Schin Beit, Micha Kobi, gegenüber der „Financial Times“.

Laut Kobi, der Sinwar selbst einst verhörte, erzählte ihm dieser, wie er angeblich den Kollaborateur einer verfeindeten Fraktion bestrafte. Er habe dessen Bruder, der bei der Hamas war, dazu „gezwungen, den eigenen Bruder lebendig zu begraben“. Sinwar werde von verschiedenen Leuten, die ihn über die Jahrzehnte besser kennenlernten, als charismatisch, wortkarg, brutal, manipulativ, rasch auffahrend, entschlossen und mitreißend beschrieben, so die „Financial Times“.

In Haft wurde Tumor entfernt

In israelischer Haft wurde Sinwar rasch zum Anführer der politischen Häftlinge. 2004 wurde ihm in Haft von israelischen Ärzten ein Tumor im Gehirn entfernt. 2011 kam Sinwar frei – als einer von tausend palästinensischen Gefangenen, die gegen den französisch-israelischen Soldaten Gilad Schalit ausgetauscht wurden.

2017 wurde Sinwar zum politischen Führer der Hamas im Gazastreifen gewählt, nachdem sein Vorgänger Ismail Hanija Chef der Organisation wurde und ins Exil ging.

Wegbegleiter von Scheich Jassin

Sinwar, der im Slum von Chan Junis in Nachbarschaft zu Deif aufwuchs, war einst auch einer der Ideengeber von Scheich Achmad Jassin, der zentralen Figur der Hamas. Jassin, der 2004 von Israel getötet wurde, baute den Ableger der Muslimbruderschaft in Gaza entscheidend aus – zunächst als rein soziale Bewegung, die sich aber in der Auseinandersetzung mit der Fatah einerseits und Israel andererseits rasch radikalisierte und zur Terrororganisation umwandelte.

Israel gegenüber zeigte sich Sinwar immer wieder für gewisse Arrangements – wirtschaftliche Erleichterung gegen Verzicht auf Angriffe – verhandlungsbereit. Im Nachhinein stellt sich das für Israel nun als gezieltes politisch-diplomatisches Manöver dar, um das Land in falscher Sicherheit zu wiegen.

So geschlossen sie derzeit nach außen auftritt – intern gibt es in der Hamas durchaus verschiedene Strömungen und unterschiedliche Abstufungen an Radikalität. Dazu kommen interne Machtkämpfe – zwischen Exilführung und jener in Gaza und zwischen politischer und militärischer Führung. Eine Streitfrage ist etwa, wie weit der Schulterschluss der Terrororganisation mit dem schiitischen Iran gehen soll.

Panzer vor zerbombten Gebäuden im Gazastreifen
Reuters/Amir Cohen
Im Zuge des israelischen Gegenschlags: Tausende Tote, Hunderttausende auf der Flucht und unzählige Gebäude in Trümmern

Strategisches Ziel verfehlt

Die hohe Zahl an Opfern und Geiseln, die der von Sinwar geplante Überfall von Israel forderte, ist nicht nur in den Augen der Terrororganisation selbst, sondern auch in denen vieler Palästinenser ein großer Erfolg. Gemäßigtere Teile der Bevölkerung freilich sehen vor allem das enorme Leid und Elend, das Sinwar damit über die eigene Bevölkerung gebracht hat.

Und das damit verbundene strategische Ziel, Israel in einen Fünffrontenkrieg zu ziehen, scheint nicht aufzugehen. Denn die Appelle von Sinwar und der restlichen Hamas-Führung an die arabischen Israelis, die Palästinenser im besetzten Ostjerusalem und im besetzten Westjordanland sowie die Hisbollah im Libanon, um sie in die kriegerische Auseinandersetzung mit Israel hineinzuziehen, wurden von diesen weitgehend ignoriert.

Ohne Rücksicht auf „Kosten“

Die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien wurde „erfolgreich“ unterbrochen. Den Preis für die provozierte Eskalation nie da gewesenen Ausmaßes bezahlt aber nicht nur die eigene Bevölkerung mit vielen Toten, Verwundeten, Traumatisierten und der Zerstörung ihrer Existenzgrundlage; auch die Terrororganisation selbst dürfte – setzt Israel sein erklärtes Kriegsziel nur annähernd um – ihre Existenzgrundlage weitgehend verlieren, zumindest aber in ihren Möglichkeiten um Jahre zurückgeworfen werden.

Sinwars größte Hoffnungen ruhen derzeit einerseits auf den mehr als 200 Geiseln, die die Hamas in ihren Händen hält, andererseits darauf, dass Israel offenbar noch keinen Plan hat, wie es politisch nach dem Krieg in Gaza weitergehen soll, geschweige denn sich die für eine Umsetzung nötige Unterstützung vor allem der USA und Ägyptens gesichert hat.

Sollten aber mittelfristig aus der aktuellen Katastrophe ernsthafte Friedensbemühungen in Gang kommen, würde das Sinwars Plan zu einer aus seiner Sicht fatalen Fehleinschätzung umwandeln. Vorausgesetzt, Terrorchef Sinwar lebt dann noch.