Ein israelischer Soldat steht bei einem Eingang ins unterirdische Tunnelsystem in Gaza
APA/AFP/Israeli Army
„Nächste Stufe“

Israel nimmt vermehrt Hamas-Tunnel ins Visier

Mitten in Aufrufen zu einer humanitären Waffenruhe verstärkt Israel seine Angriffe auf den von der islamistischen Terrororganisation Hamas beherrschten Gazastreifen. Die israelische Armee will sich verstärkt den Tunneln der Hamas widmen. Es werde die „nächste Stufe der Offensive“ zur geplanten Vernichtung der Hamas gestartet, kündigte Militärsprecher Richard Hecht am Montag an.

Die Streitkräfte seien bereit, Hamas-Kämpfer in deren unterirdischen Tunneln und Bunkern im nördlichen Gazastreifen anzugreifen. „Jetzt werden wir anfangen, uns ihnen zu nähern“, sagte Hecht. Das bedeute, dass sie oberirdisch und unterirdisch angegriffen würden. Laut Angaben der Armee von vor einigen Tagen werden bereits „verschiedene Arten von Robotern und Sprengkörpern“ eingesetzt, um die Tunnel zu zerstören, die von der Hamas als Versteck genutzt werden. Dafür sei es nötig, die Eingänge in das Tunnelnetz ausfindig zu machen.

Jair Golan, ehemaliger stellvertretender Chef des israelischen Generalstabs, sagte allerdings bereits am Donnerstag in einem Interview mit dem Armeeradio, dass israelische Soldaten unter keinen Umständen die Tunnel betreten sollten, wie etwa die Times of Israel berichtete. „Es wäre ein großer Fehler, in die Tunnel zu gehen“, in denen sich die Hamas versteckt und wartet.

Abgesehen von Sprengfallen sei es praktisch unmöglich, bei Kämpfen in den Tunnelsystemen nicht verwundet zu werden. Aber ab dem Moment, in dem die Eingänge gefunden werden, seien die Angreifer voll im Vorteil. Die Tunnel würden für die Hamas zur Todesfalle werden.

Möglicher Eingang in das unterirdische Tunnelsystem in Gaza
Reuters/Israel Defense Forces
Ein möglicher Eingang in das Tunnelsystem in Gaza

Blinken: „Konkrete Möglichkeiten“ für humanitäre Hilfe

Die USA bemühen sich nach Angaben ihres Außenministers Antony Blinken darum, die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen auszuweiten. „Wir arbeiten mit Nachdruck daran, mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen, und wir haben sehr konkrete Möglichkeiten, das zu tun“, sagte Blinken am Montag nach einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan in Ankara. Weitere Details nannte er nicht.

Das rund zweieinhalbstündige Gespräch zwischen Blinken und Fidan fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Aus türkischen Diplomatenkreisen hieß es im Anschluss, Fidan habe von Blinken eine „sofortige“ Feuerpause im Gazastreifen gefordert. Israel müsse daran gehindert werden, „Zivilisten ins Visier zu nehmen“ und Menschen innerhalb des palästinensischen Küstengebiets zu vertreiben, sagte der türkische Außenminister laut den Quellen. Im Hinblick darauf erklärte Blinken, Washington sei sich der „großen Besorgnis“ in der Türkei „über die schrecklichen Opfer“ im Gazastreifen bewusst.

Aus Washington hieß es derweil, dass sich US-Vizepräsidentin Kamala Harris einer Verstärkung der humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen annehmen werde. Wie das Büro der US-Vizepräsidentin mitteilte, wird Harris am Montag in einem Telefongespräch ausländische Staats- und Regierungschefs über die Bemühungen der US-Regierung informieren.

Heftige Bombardements in der Nacht

Zuvor hatte es in der Nacht zahlreiche Angriffe im Gazastreifen geben. Die israelischen Luftstreitkräfte bombardierten in den vergangenen 24 Stunden rund 450 Ziele, teilte das Militär Montagfrüh mit. Darunter seien Tunnel, militärische Anlagen und Abschussrampen für Panzerabwehrraketen der islamistischen Hamas gewesen. Zudem hätten die Bodentruppen einen militärischen Komplex übernommen. Bei dem Einsatz seien „mehrere Hamas-Terroristen“ getötet worden, hieß es. Es kam auch zu einem „Kommunikationsblackout“.

Israelische Panzer im Norden Gazas
APA/AFP/Israeli Army
Israelische Panzer im nördlichen Gazastreifen

Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium von Gaza berichtete von mehr als 200 Toten bei den nächtlichen Angriffen. Die Toten wurden dabei als „Märtyrer“ bezeichnet. In einer Meldung der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA war von „beispiellosen Bombardements“ durch Israel die Rede. Tote habe es in Gaza-Stadt gegeben, aber auch in den etwas weiter südlich gelegenen Ortschaften Sawaida und Deir al-Balah. Seit Ausbruch der Kämpfe seien 10.022 Menschen im Gazastreifen getötet worden, teilte die Gesundheitsbehörde im von der Hamas beherrschten Gebiet mit. Unter den Toten seien 4.104 Kinder. Unabhängig sind die Angaben nicht zu überprüfen.

Borrell bringt Rotes Kreuz ins Spiel

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schlug unterdessen einen vorübergehenden Stopp der israelischen Angriffe im Gazastreifen vor, wenn die Hamas im Gegenzug Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Zugang zu den seit einem Monat im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gewährt. Ein solches Vorgehen könne „ein erster Schritt“ zur Freilassung der Geiseln sein, sagte Borrell am Montag vor EU-Diplomaten in Brüssel.

„Wir müssen sicherstellen, dass die Gewalt zurückgeht und internationales humanitäres Recht geachtet wird“, so Borrell. Es gebe „keine militärische Lösung für den Konflikt“. Der EU-Außenbeauftragte warnte, eine „Überreaktion“ Israels in seinem Vorgehen gegen die Hamas könne letztlich dazu führen, dass das Land „die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verliert“. Der Hamas-Angriff auf Israel vor einem Monat sei „ein Wendepunkt in der Geschichte“ und werde die Zukunft der Region auf Jahrzehnte beeinflussen.

EU stockt humanitäre Hilfe auf

Die Europäische Union stockt derweil ihre humanitäre Hilfe für den Gazastreifen um 25 Millionen Euro auf. Damit stelle die EU insgesamt 100 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Zivilisten in dem Palästinensergebiet bereit, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Union arbeite mit Israel, Ägypten und der UNO zusammen, damit die Hilfe die Menschen auch erreiche.

ORF-Korrespondent Cupal zur Lage in Gaza

ORF-Korrespondent Tim Cupal meldet sich aus Tel Aviv und spricht über die aktuelle Lage in Gaza-Stadt.

Die jordanischen Luftstreitkräfte warfen unterdessen einem Medienbericht zufolge medizinische Hilfsgüter über dem Gazastreifen ab. Das berichtete die Nachrichtenplattform Times of Israel in der Nacht auf Montag unter Berufung auf eine entsprechende Mitteilung des jordanischen Königs Abdullah II. Israel hatte ein Embargo gegen unkontrollierte Hilfslieferungen in den Gazastreifen verhängt. Israel bestätigte laut BBC ein koordiniertes Vorgehen mit Jordanien, nachdem erst spekuliert worden war, ob die Aktion abgesprochen war.

Jordanisches Hilfspaket für Menschen in Gaza wird in eine Militärmaschine verfrachtet
APA/AFP/Jordanian Armed Forces
In Jordanien werden Hilfsgüter für Gaza in eine Militärmaschine verfrachtet

UNO-Organisationen fordern sofortige Feuerpause

Angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und der kritischen Versorgungslage im Gazastreifen forderten mehrere UNO-Organisationen in der Nacht auf Montag eine sofortige Feuerpause. „Es sind jetzt 30 Tage. Genug ist genug. Es muss jetzt enden“, teilten sie mit.

Dem UNO-Aufruf schlossen sich das Nothilfebüro (OCHA), das Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), das Kinderhilfswerk (UNICEF), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Welternährungsprogramm (WFP) sowie etwa die Hilfsorganisationen CARE und Save the Children an. Israel lehnt Forderungen nach einer Waffenruhe bisher ab, weil es befürchtet, dass die Hamas diese zur Reorganisation nutzen würde. Es sicherte aber Feuerpausen in bestimmten Bereichen zu, um Zivilisten die Flucht aus dem Norden in den Süden zu ermöglichen.

Menschen auf der Flucht in Gaza
AP/Hatem Moussa
Menschen auf der Flucht in Gaza

Die rund 1.400 Todesopfer auf israelischer Seite und die Verschleppung von mehr als 200 Geiseln infolge des Hamas-Angriffs seien „grauenvoll“, teilten die Organisationen weiters mit. „Aber die schreckliche Tötung von noch mehr Zivilisten in Gaza ist eine Schandtat wie auch das Kappen von Essen, Wasser, Arzneimitteln, Strom und Treibstoff für 2,2 Millionen Palästinenser.“ Einer ganzen Bevölkerung werde „Zugang zu den nötigsten Dingen für das Überleben verweigert“. Sie würden „in ihren Häusern, Notunterkünften, Krankenhäusern und Gotteshäusern bombardiert“, schrieben die Organisationen.

USA: Atomwaffenfähiges U-Boot im Einsatz

Das US-Militär ist nach eigenen Angaben mit einem atomwaffenfähigen U-Boot im Nahen Osten präsent. Am Sonntag sei ein U-Boot der Ohio-Klasse in seinem Zuständigkeitsbereich angekommen, teilte das Regionalkommando des US-Militärs (CENTCOM) auf Twitter mit. Das Militär nannte keine weiteren Details zum Zielort, dem Namen oder der Bewaffnung des rund 170 Meter langen U-Boots.

Bei der Ohio-Klasse handelt es sich um atomwaffenfähige U-Boote, die die USA schon seit dem Kalten Krieg vor allem zur Abschreckung einsetzen. Sie können auch mit Dutzenden konventionellen Tomahawk-Marschflugkörpern bewaffnet sein. Der Sender CNN sah in dem Einsatz des U-Boots eine Botschaft der Abschreckung an den Iran und seine Stellvertreter in der Region. Eine solche Ankündigung seitens des US-Militärs über die Einsätze eines U-Boots der Ohio-Klasse sei selten, so der Sender.