Palästinenserinnen und Palästinenser fliehen vom Norden Gazas in den Süden
AP/Hatem Moussa
Gazastreifen

Tausende weitere Zivilisten in Süden geflohen

Zehntausende weitere palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten sind am Mittwoch aus dem heftig umkämpften Norden des Gazastreifens in Richtung Süden geflohen. Während internationale Rufe nach temporären Feuerpausen lauter wurden, verkündete die israelische Armee am Abend, die Terrororganisation Hamas habe die Kontrolle über den Norden Gazas verloren. Von der UNO kam unterdessen scharfe Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs.

Die Hamas hat nach Angaben Israels die Kontrolle über den nördlichen Gazastreifen verloren. Mehr als 50.000 Menschen seien aus dem Norden in den Süden gezogen, sagte ein Militärsprecher. „Sie ziehen um, weil sie verstehen, dass die Hamas die Kontrolle über den Norden verloren hat.“ Bereits zuvor hatte die israelische COGAT-Behörde, die für palästinensische Angelegenheiten zuständig ist, die Zahl von 50.000 Menschen gemeldet, die allein am Mittwoch in den Süden des Küstenstreifens geflohen seien.

Bereits am Vormittag hatte die israelische Armee auf Twitter (X) selbst ein Video geteilt, auf dem laut der Armee Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens zu sehen sind, die sich in den Südteil des Küstenstreifens begeben. Der israelische Armeesprecher, der das Video teilte, forderte in dem auf arabischen verfassten Post die Menschen im Norden des Gazastreifens erneut auf, sich Richtung Süden zu begeben.

In einem weiteren ähnlich lautenden Post des Sprechers hieß auf Arabisch, die Armee erlaube zwischen 10.00 Uhr und 14.00 Uhr Ortszeit (13.00 Uhr MEZ) die Durchfahrt auf einer Verbindungsstraße Richtung Süden. Er veröffentlichte dazu eine Karte, auf der die Straße eingezeichnet war. Gegen Mittag teilte die Armee mit, aufgrund der starken Inanspruchnahme des Fluchtkorridors werde das Zeitfenster um eine Stunde verlängert. Am Abend stellte ein Armeesprecher weitere Feuerpausen in Aussicht, um Menschen die Flucht in den Süden zu ermöglichen.

Auch UNO sieht erneut Anstieg von Flüchtlingszahlen

Am Dienstag seien etwa 15.000 Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen in Richtung Süden unterwegs gewesen, teilte das UNO-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) am Mittwoch mit. Ein weiterer Anstieg des Flüchtlingsstroms sei am Mittwoch zu verzeichnen gewesen. Am Montag hatten sich demzufolge etwa 5.000 Menschen aus dem Norden des von der Hamas beherrschten Küstenstreifens in Richtung Süden auf den Weg gemacht, am Sonntag waren es noch rund 2.000 Menschen. OCHA spricht von insgesamt rund 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen im Gazastreifen.

Palästinenserinnen und Palästinenser fliehen vom Norden Gazas in den Süden
AP/Hatem Moussa
Am Mittwoch verließen erneut Tausende Bewohner den Norden des Gazastreifens in Richtung Süden

Ein Sprecher des von der militanten Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza hatte am Dienstag gesagt, es gebe keinen sicheren Ort im gesamten Gazastreifen. Er warf Israel vor, auch im Süden des Küstenstreifens „Massaker“ zu begehen. Der Sprecher riet den Menschen im Norden daher, den Anweisungen der israelischen Armee nicht Folge zu leisten. Israel wirft der Hamas dagegen vor, sie missbrauche palästinensische Zivilisten gezielt als „menschliche Schutzschilde“.

Gaza: Tausende Zivilisten Richtung Süden geflohen

Tausende weitere palästinensische Zivilisten sind aus dem heftig umkämpften Norden des Gazastreifens in Richtung Süden geflohen. Israels Armee hatte zuvor den Menschen im nördlichen Gazastreifen ein Zeitfenster für die Flucht in den Süden des Küstengebiets genannt.

Israels Armee vermeldet 130 zerstörte Hamas-Tunnel

Vor mehr als einer Woche hatte die israelische Armee eine neue Phase im Krieg gegen die im Gazastreifen herrschende Hamas eingeläutet und ihre Einsätze auf dem Boden ausgeweitet. Sie hatte die Menschen im Norden bereits mehrfach aufgefordert, in den Süden des abgeriegelten Küstenstreifens zu fliehen. Das Militär bekämpft derzeit vor allem im Norden die Einrichtungen der islamistischen Hamas. Doch auch im Süden kam es bereits wiederholt zu israelischen Luftangriffen.

Im Zentrum der Angriffe stehen laut der israelischen Armee Einrichtungen der Hamas. Am Mittwoch teilten die Streitkräfte mit, dass sie seit Beginn des Krieges insgesamt 130 Tunnelschächte der Terrormiliz zerstört hätten. Das Militär veröffentlichte Videos, die zeigten, wie schweres Gerät Tunneleingänge im sandigen Boden aufgrub und eine Betonplatte hochhob. In einem Videoclip war ein Tunnel zu sehen, der mit Betonplatten ausgekleidet war.

Wasser- und Sauerstoffvorräte in den Tunneln zeugten von geplanten längeren Aufenthalten, hieß es in der Mitteilung. Die Armee habe auch unter einem Trainingslager der Hamas im nördlichen Gazastreifen Tunnelschächte entdeckt, die zerstört worden seien.

Armee „operiert“ in Gaza-Stadt

Zugleich hieß es aus Israel, dass die Armee in Gaza-Stadt „operiert“ – die Stadt sei eingekreist, so Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Verteidigungsminister Joav Galant sagte, die Streitkräfte seien „im Herzen von Gaza-Stadt“.

Kämpfe in Gaza-Stadt

Israels Armee ist eigenen Angaben zufolge in eine neue Phase des Kriegs im Gazastreifen übergegangen. Sie kämpft bereits im Zentrum von Gaza-Stadt.

Insgesamt sollen seit Kriegsbeginn laut Angaben des israelischen Militärs mehr als 14.000 Ziele angegriffen worden sein. Dabei seien über 4.000 Waffen zerstört worden. Viele seien in Moscheen, Kindergärten und Wohngebieten versteckt gewesen. „Das ist ein Beweis für den zynischen Missbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde durch die Hamas“, sagte Militärsprecher Daniel Hagari.

Scharfe Kritik von UNO

Der israelische Kampfeinsatz im Gazastreifen rief am Mittwoch erneut Kritik vonseiten der UNO hervor. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, warf sowohl der Hamas als auch Israel Kriegsverbrechen vor.

„Die Gräueltaten, die von bewaffneten palästinensischen Gruppen am 7. Oktober begangen wurden, waren abscheulich, das waren Kriegsverbrechen, genauso wie die andauernde Geiselnahme“, sagt der österreichische Diplomat am Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten. „Die kollektive Bestrafung Israels von palästinensischen Zivilisten ist auch ein Kriegsverbrechen, genauso wie die rechtswidrige gewaltsame Evakuierung von Zivilisten.“

Ähnlich äußerte sich auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Die radikalislamische Hamas begehe zwar Verstöße wie die Verwendung von Menschen als Schutzschilde, sagte Guterres am Mittwoch bei der Konferenz „Reuters Next“ in New York. „Aber wenn man sich die Zahl der Zivilisten ansieht, die bei den Militäreinsätzen getötet wurden, dann läuft etwas offensichtlich falsch.“

Guterres: Etwas „läuft eindeutig falsch“

Auch die Zahl der getöteten Kinder deute darauf hin. Jedes Jahr gehe diese Zahl bei allen Konflikten höchstens in die Hunderte. „Im Gazastreifen wurden innerhalb weniger Tage Tausende und Tausende von Kindern getötet, was bedeutet, dass auch bei der Durchführung der Militäreinsätze etwas eindeutig falsch läuft.“

Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser stieg nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums auf über 10.000. Mehr als 26.000 Menschen seien verletzt worden, teilte die Behörde am Mittwoch mit. Unter den Toten seien 4.324 Kinder und Jugendliche. Die Zahlen und Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.

G-7 für „humanitäre Pausen und Korridore“

Druck auf Israel kam am Mittwoch auch von den G-7-Staaten, auch sie forderten „humanitäre Pausen“. Solche Pausen sowie „Korridore“ seien nötig, um die Lieferung von Hilfsgütern und eine Geiselfreilassung zu ermöglichen, hieß es in dem Abschlussdokument eines zweitägigen G-7-Außenministertreffens in Tokio.

G-7-Staaten berieten zu Krieg

Um die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen und Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu bringen, fordern die G-7-Länder bei ihrem Treffen in Tokio nun humanitäre Kampfpausen.

Die Minister verurteilten „unmissverständlich die Terroranschläge der Hamas“ vom 7. Oktober und betonten das Recht Israels, sich „im Einklang mit dem Völkerrecht zu verteidigen“. Zu den G-7-Ländern gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und Großbritannien.

Nicht zuletzt die USA drängten Israel zuletzt mehrfach zu kurzfristigen Feuerpausen – unter anderem bei einem Telefonat von US-Präsident Joe Biden mit Netanjahu, wie am Mittwoch bestätigt wurde. Es sei um „taktische Pausen“ aus humanitären Gründen und Geiselbefreiungen gegangen, hieß es. Dem US-Nachrichtenportal Axios zufolge habe Biden Netanjahu gesagt, dass eine dreitägige Feuerpause zur Freilassung von Geiseln führen könne – dieses Detail blieb aber unbestätigt.

Zuletzt schloss Netanjahu eine Waffenruhe aus, solange die Hamas nicht die über 240 Geiseln freilässt. Es werde „keine humanitäre Waffenruhe geben ohne eine Rückkehr der Geiseln“, bekräftigte auch der israelische Verteidigungsminister Galant.

Blinken: „Keine gewaltsame Vertreibung aus Gaza“

Auch zur Phase nach der israelischen Offensive in Gaza gibt es zunehmend Stimmen, auch hier nahmen die USA klar Stellung: US-Außenminister Antony Blinken sprach sich gegen eine erneute israelische Besetzung des Gazastreifens aus. Zu den Voraussetzungen für „dauerhaften Frieden und Sicherheit“ solle gehören, „dass die Palästinenser nicht gewaltsam aus dem Gazastreifen vertrieben werden“, so Blinken – „nicht jetzt, nicht nach dem Krieg“.

US-Außenminister Antony Blinken am G7-Treffen in Tokio
APA/AFP/Richard A. Brooks
Blinken unterstrich nach dem G-7-Treffen in Tokio die Vorstellungen der USA zur Zukunft Gazas

„Keine Wiederbesetzung des Gazastreifens“

Blinken betonte: „Keine Wiederbesetzung des Gazastreifens nach Beendigung des Konflikts, kein Versuch, den Gazastreifen zu blockieren oder zu belagern, keine Verkleinerung des Gebiets von Gaza.“ Zudem dürfe der Gazastreifen nicht „als Plattform für Terrorismus oder andere gewalttätige Angriffe“ genutzt werden, sagte Blinken. „Wir müssen auch sicherstellen, dass keine terroristischen Bedrohungen vom Westjordanland ausgehen können“, fügte er hinzu.

Jene, die einen sofortigen Waffenstillstand forderten, hätten die Pflicht zu erklären, wie man mit dem Schicksal der Geiseln umgehen solle und der erklärten Absicht der Hamas, den 7. Oktober immer zu wiederholen. Israel habe wiederholt gesagt, dass es kein Zurück zur Zeit vor dem Angriff der islamistischen Hamas am 7. Oktober gebe, sagte Blinken. „Wir stimmen voll und ganz zu.“

Wie es mit dem Gazastreifen nach dem Ende des Krieges weitergehen soll, ist aber auch nach offizieller US-Ansicht noch offen. Das müsse man erst noch herausfinden, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, am Mittwoch dem US-Sender CNN. Die USA könnten das Problem nicht allein lösen. „Wir werden diplomatische Gespräche mit den Menschen in der Region führen müssen, um eine Lösung zu finden.“

Kirby betonte, dass es durchaus denkbar sei, dass das israelische Militär für einige Zeit im Gazastreifen bleiben werde, um die „unmittelbaren Folgen zu bewältigen und die Sicherheitslage zu verbessern“. Wichtig sei aber, dass bei der Frage nach der Zukunft Gazas die Palästinensische Autonomiebehörde „von Anfang an“ Teil der Diskussion sei, so Kirby.

Netanjahu-Aussagen warfen Fragen auf

Davor hatte Netanjahu mit vagen Äußerungen zur Zukunft des Gazastreifens Fragen aufgeworfen. Er hatte am Montag in einem Interview mit einem US-Medium gesagt, Israel wolle für „unbestimmte Zeit“ die Verantwortung für Sicherheit im Gazastreifen übernehmen, um weitere Angriffe zu unterbinden. Von einer Wiederbesetzung sprach er zwar nicht dezidiert, dennoch rückten ein Minister und ein ranghoher Berater aus, um Erklärungen zu den Aussagen nachzureichen.

„Zwischen Präsenz und Kontrolle unterscheiden“

Eine dauerhafte Besetzung werde es nicht geben, doch müsse es eine Sicherheitspräsenz Israels geben, damit das Militär je nach Bedrohungslage für Einsätze „hineingehen“ könne, stellte der israelische Regierungsberater Mark Regev am Dienstag (Ortszeit) im US-Sender CNN klar. „Wir müssen zwischen Sicherheitspräsenz und politischer Kontrolle unterscheiden.“

„Wenn das vorbei ist und wir die Hamas besiegt haben, ist es entscheidend, dass es dort kein wiederauflebendes terroristisches Element, keine wiederauflebende Hamas gibt“, sagte Regev dem US-Fernsehsender CNN. Auch der Minister für strategische Angelegenheiten, Ron Dermer, sagte in einem Interview mit dem US-Fernsehsender MSNBC, dass Israel den Gazastreifen „nicht erneut besetzen“ werde.