Der Grüne Nationalratsabgeordnete Michel Reimon
APA/Tobias Steinmaurer
Reimon-Rückzieher

Grüne vor Superwahljahr in Dilemma

Bei den Grünen hakt es bei der Erstellung der Kandidatenliste für die EU-Parlamentswahl nächstes Jahr: Nachdem der Bundeskongress von Dezember auf Februar verschoben wurde, ist nun der grüne Nationalratsabgeordnete Michel Reimon als möglicher Kandidat abgesprungen. Der Politologe Peter Filzmaier sieht die Grünen angesichts des Superwahljahrs 2024 im Dilemma: Einerseits gebe es ein „Vakuum beim Personal“, im Hintergrund gehe es andererseits um die inhaltliche Hauptstoßrichtung im Wahljahr.

In den letzten Wochen und Monaten war über eine mögliche Kandidatur entweder von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler oder Justizministerin Alma Zadic bei der EU-Wahl Anfang Juni spekuliert worden. Zadic nahm sich dem Vernehmen nach bereits früh aus dem Rennen. Laut „Kurier“ sagte Gewessler erst vor Kurzem ab. Sie habe als EU-weite Spitzenkandidatin der Grünen antreten wollen, dafür gibt es aber mit Terry Reintke bereits eine deutsche Kandidatin. Auch wenn es offiziell dementiert wird, wird die nunmehrige Absage Gewesslers in Medien als Grund für die Verschiebung des Bundeskongresses betrachtet.

Reimon, der bereits in der Vergangenheit EU-Abgeordneter war, hatte seine Bewerbung für eine Kandidatur dagegen fix angekündigt. Er begründete seine Entscheidung, doch nicht zu kandidieren, nun damit, dass er mit der Begründung, den Parteitag wegen des Nahost-Krieges zu verschieben, nicht einverstanden ist: „Unter der neuen strategischen Vorgabe bin ich einfach kein geeigneter Kandidat“, schrieb er am Donnerstag auf Facebook.

„Wenn die Erdöl- und Erdgasregime von Russland bis zum Iran unsere Welt mit Terror, Krieg und Unterdrückung, mit Desinformation und Hetze, mit Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus überziehen, dann sollten wir Grüne das ins Zentrum unserer Außen- und Europapolitik rücken, davon bin ich überzeugt“, meinte Reimon, der schon für die Grünen im EU-Parlament saß. Er habe sich mit diesen Inhalten eigentlich für die kommende Europawahl bewerben wollen.

Filzmaier: Streit auch über inhaltliche Ausrichtung

Gewessler, Zadic und nun auch Reimon würden nicht bei der EU-Wahl antreten wollen, und das offenbare ein „Vakuum“ beim Personal. Wie Filzmaier gegenüber ORF.at betonte, haben die derzeitigen grünen EU-Abgeordneten – mit Ausnahme der Quereinsteigerin Sarah Wiener – in Österreich einen sehr geringen Bekanntheitsgrad, konkret „im einstelligen Prozentbereich“. Das spreche gegen Monika Vana und Thomas Waitz, auch wenn sie auf EU-Ebene gut verankert seien.

Dazu kommt laut Filzmaier ein „Richtungsstreit, wie man es inhaltlich angehen“ solle. Die Frage sei, ob man einen „klassischen Umweltwahlkampf“ wie 2019 führe oder ob man das momentane Topthema Krieg und Terror (Ukraine und Nahost, Anm.) in den Mittelpunkt stelle. Darüber hinaus müssten Person und Wahlkampfstrategie zusammenpassen: Gewessler hätte bei einem Umweltwahlkampf sehr gut gepasst, Reimon wäre für zweiteren Ansatz „gut geeignet“ gewesen.

„Gesamtstrategie“ für Superwahljahr

Filzmaier verwies darauf, dass die EU-Wahl im Kontext zu sehen sei: Für die Grünen sei diese Wahl, die für manch andere Parteien eher von geringerer Bedeutung sei, seit jeher von vergleichsweise größerer Wichtigkeit, auch, weil sich deren Klientel daran stärker beteilige. Im nächsten Jahr sei aber eine ähnliche Konstellation wie 2019, dass EU-Wahl- und Nationalratswahlkampf beinahe nahtlos ineinander übergehen werden.

Dazu kommen Landtagswahlen in der Steiermark und Vorarlberg sowie Gemeinderatswahlen in Salzburg und Innsbruck. Für dieses „Superwahljahr“ brauche es eine Gesamtstrategie – und Kandidatinnen und Kandidaten, die das glaubwürdig verkörpern, so Filzmaier.

Dass die bisher interne Debatte der Grünen nun öffentlich sei, sei jedenfalls ein Schaden. Egal, wer schließlich nominiert werde, er oder sie werde mit dem Zusatz des „… dem eine Debatte zuvorging“ leben müssen, so Filzmaier.

Verstärkte Polarisierung als Begründung

Die Stimmung habe sich seit dem Nahost-Krieg zwischen der Hamas und Israel verschärft, mit Auswirkungen bis Österreich, wo die Polarisierung ebenfalls merkbar zunehme, hatte die grüne Bundesgeschäftsführerin Angela Stoytchev am Mittwoch den Beschluss, den Bundeskongress zu verschieben, begründet.

Wahlkämpfe würden in der Regel zu einer Zuspitzung und Polarisierung beitragen. „Und die Ernennung der Kandidat:innen für eine Wahl ist meist Startschuss für einen Wahlkampf. Als Grüne haben wir daher beschlossen, dass es besser ist, nicht frühzeitig, kurz vor Weihnachten, in den Europawahlkampf zu starten“, so Stoytchev.

„Genau das Gegenteil meiner Bewerbung“

„Ich verstehe das Bedürfnis, bei all dem Leid und Elend innezuhalten, sich zu besinnen. Für eine Minute zu schweigen“, schrieb Reimon seinerseits am Donnerstag. „Aber dass es die Diskussionen und Reden beim Start in die Europawahl nicht prägen soll, ist doch ein markanter Unterschied zu meiner politischen Einschätzung … eigentlich genau das Gegenteil meiner Bewerbung“, übte er Kritik an der Entscheidung seiner Partei.

„Ich wollte Aufmerksamkeit auf genau diese Zusammenhänge lenken und die Scheinwerfer auf die Profiteure im Hintergrund richten“, erklärte er. „Unter dieser Prämisse sollte ich nicht antreten.“ Er finde es schade, werde aber bei den Wahlen nächstes Jahr trotzdem mit aller Kraft für die Grünen laufen.

Wer die Grünen in die EU-Wahl führen wird, ist damit weiter völlig offen. Derzeit ist die Partei mit drei Mandaten im EU-Parlament vertreten, die von Vana, Waitz und Wiener eingenommen werden.