Israelische Soldaten in Gaza
Reuters/Israeli Defense Forces
Netanjahu

Norden Gazas unter Kontrolle Israels

Die islamistische Palästinenserorganisation Hamas hat nach israelischer Darstellung die Kontrolle über den nördlichen Teil des Gazastreifens verloren. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Samstagabend, Hamas-Kämpfer hätten „keinen sicheren Ort mehr, um sich zu verstecken“. Auch das Militär hatte zuvor mitgeteilt, die Hamas kontrolliere den Norden des Küstenstreifens nicht mehr.

Israelischen Armeeangaben zufolge bewegten sich in den vergangenen drei Tagen 150.000 Menschen in den Süden – entgegen der Anordnungen der Hamas. Laut Augenzeugenberichten fuhren israelische Panzer auf zentralen Straßen der Stadt Gaza. Laut dem Palästinensischen Roten Halbmond sind sie etwa 20 Meter vom Al-Kuds-Spital entfernt. Die Kassam-Brigaden der Hamas brüsteten sich indes mit vermeintlichen Erfolgen gegen die israelische Armee. Mehr als 160 israelische „Militärziele“ seien vollständig oder teilweise zerstört worden, darunter 25 Fahrzeuge in den vergangenen 48 Stunden.

Netanjahu sagte, von Hamas-Chef Jihia al-Sinwar „bis zum letzten Terroristen“ seien alle todgeweiht. Die Armee habe bereits Tausende Terroristen getötet, darunter auch „Kommandeure, die das schreckliche Massaker am 7. Oktober angeführt haben.“ Es werde keine Waffenruhe ohne Rückführung der Geiseln geben, bekräftigte Netanjahu. Zu diplomatischen Bemühungen um eine Freilassung sagte er, man werde die Familien informieren, sobald es etwas Konkretes gebe. Bis dahin sei es besser, zu schweigen.

Spitäler in Gaza laut OCHA-Datenbank und OpenStreetMap-Einträgen, zum Zoomen Touchscreen oder blaue Buttons (rechts) verwenden

Warnung an Hisbollah

Angesichts der anhaltenden Angriffe aus dem benachbarten Libanon richtete Israel zudem eine deutliche Warnung an die Schiitenmiliz Hisbollah. „Macht nicht den Fehler, in den Krieg einzusteigen. Das wäre der Fehler eures Lebens“, sagte Netanjahu am Samstagabend an die Hisbollah gerichtet, die hauptsächlich vom Iran finanziert wird. „Euer Einstieg in den Krieg wird das Schicksal des Libanon besiegeln.“

Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant sagte, an der Nordgrenze seines Landes hätten sich „die Provokationen in Aggression verwandelt“. Der größte Teil der israelischen Luftstreitkräfte sei nicht mehr mit dem Gazastreifen beschäftigt, die Flugzeugnasen seien nun nach Norden gerichtet. „Die Bürger des Libanon müssen wissen, dass wenn (Hisbollah-Chef Hassan, Anm.) Nasrallah einen Fehler begeht, das Schicksal Beiruts wie das Schicksal Gazas sein könnte.“

Kämpfe rund um Krankenhaus

Unterdessen gingen auch im Gazastreifen die Kampfhandlungen am Wochenende unvermindert weiter. Am Samstag richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Situation rund um das Al-Schifa-Krankenhaus in der Stadt Gaza. Das israelische Militär kündigte an, am Sonntag bei der Evakuierung der Neugeborenenstation aus dem Spitalsgebäude helfen zu wollen. Die Mitarbeitenden des Krankenhauses hätten um die Evakuierung der Babys in ein sichereres Spital gebeten, sagte der israelische Konteradmiral Daniel Hagari am Samstagabend. „Wir werden die nötige Unterstützung leisten.“

Das Al-Schifa-Krankenhaus ist die größte Klinik im Gazastreifen. Es habe nach palästinensischen Angaben am Samstag seinen Betrieb einstellen müssen, weil der Treibstoff für die Stromgeneratoren ausgegangen sei. „Infolgedessen starb ein Neugeborenes im Brutkasten, in dem sich 45 Babys befinden“, sagte Aschraf al-Kidra, der Sprecher der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde im Gazastreifen, zu Reuters. Weitere Säuglinge seien vom Tod bedroht.

Israel verortet Hamas-Kommandozentrale unter Spital

Israel wirft der Hamas vor, unter dem Hospital eine Kommandozentrale eingerichtet zu haben. Nach Angaben des von der Terrororganisation kontrollierten Gesundheitsministeriums wurden bei nächtlichem Beschuss der Intensivstation ein Mensch getötet und mehrere Menschen verletzt. Bereits am Freitag hatte die Hamas 13 Tote beim Beschuss der Klinik gemeldet.

Die Armee dementierte das. Man feuere nicht auf das Spital, doch gebe es Gefechte mit Hamas-Kämpfern in dessen Umgebung, sagte ein Armeeoffizier. Die Menschen könnten das Krankenhaus noch immer sicher verlassen, erklärte Oberst Mosche Tetro von COGAT, einer Einheit des israelischen Verteidigungsministeriums, die mit Palästinenserinnen und Palästinensern in zivilen Angelegenheiten zusammenarbeitet. Die Ostseite des Geländes stehe für jeden offen, der sich in Sicherheit bringen wolle.

Ähnlich äußerte sich ein Armeesprecher in Tel Aviv. „An dem Krankenhaus wird weder geschossen noch wird es belagert“, sagte er. Die israelischen Truppen unterstützten jeden, der das Krankenhaus sicher verlassen wolle. Erkenntnissen israelischer Geheimdienste zufolge missbraucht die in dem Küstengebiet herrschende Hamas das Schifa-Krankenhaus als Kommando- und Kontrollzentrum. Auch diese Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.

Ärzte ohne Grenzen spricht von „katastrophaler“ Situation

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) erklärte am Samstag im Onlinedienst Twitter (X), dass „in den vergangenen Stunden die Angriffe auf das Al-Schifa-Krankenhaus dramatisch zugenommen haben“. Sie sprach von einer „katastrophalen“ Situation in der Einrichtung. Wenige Stunden später erneuerte die Organisation ihren Appell für eine Waffenruhe im Gazastreifen. „Wir werden hier getötet, bitte tun Sie etwas“, habe eine Krankenschwester von MSF aus dem Keller des Schifa-Krankenhauses am Samstag geschrieben. Teams von MSF und Hunderte von Patientinnen und Patienten befänden sich immer noch in der Klinik.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Hälfte der 36 Krankenhäuser im Gazastreifen nicht mehr funktionstüchtig. „Das Gesundheitssystem ist am Boden – und dennoch wird weiterhin lebensrettende Versorgung geleistet“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Hoffnung gab es zumindest für Ausländerinnen und Ausländer im Gazastreifen. Für sie sollte am Sonntag wieder der Grenzbalken am Übergang Rafah nach Ägypten aufgehen, wie die Gaza-Grenzbehörde mitteilte.

Reaktion auf beispiellosen Terrorangriff Anfang Oktober

Mit ihren schweren Angriffen im dicht besiedelten Gazastreifen reagiert die israelische Armee auf den beispiellos brutalen Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel. Hunderte Islamisten waren am 7. Oktober nach Israel eingedrungen und hatten Gräueltaten überwiegend an Zivilistinnen und Zivilisten verübt, darunter zahlreiche Kinder.

Laut aktualisierten israelischen Angaben wurden 1.200 Menschen in Israel getötet und mehr als 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden bei der israelischen Militäraktion zur Vernichtung der Terrororganisation bisher mehr als 11.000 Menschen getötet, darunter 4.500 Kinder.