Hamas-Kämpfer
Reuters/Hamas Military Wing
Soldatin tot

Geiselvideos als Waffe der Hamas

Die Terrororganisation Hamas setzt seit der Entführung von mehr als 230 Menschen aus Israel Videos mit den Geiseln zunehmend als psychologische Waffe ein. Am Montag zeigte die Hamas das Video einer Soldatin und warf Israel vor, sie sei bei einem israelischen Luftangriff getötet worden. Israel sprach von Psychoterror. Die humanitäre Lage in Gaza, insbesondere in den Spitälern, verschärft sich weiter. Die Armee brachte unterdessen Regierungsgebäude der Hamas unter ihre Kontrolle.

Die israelische Armee bestätigte am Dienstag den Tod der 19-jährigen Hamas-Geisel Noa Marciano. Die Soldatin aus der Stadt Modiin „wird von der Armee für tot erklärt“, teilte das Militär mit. „Sie war von der Terrororganisation Hamas entführt worden.“ Marcianos Familie sei über den Tod der 19-Jährigen informiert worden. „All unsere Gedanken sind bei der Familie Marciano“, so die Armee.

Am Montag hatten die Al-Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der radikalislamischen Hamas, ein Video von Marciano veröffentlicht, in dem sie sich selbst identifiziert. Dazu veröffentlichten sie ein Foto, das Marciano offenbar tot zeigt. Ein Sprecher der Brigaden, Abu Ubaida, sagte, Marciano sei bei einem israelischen Luftangriff getötet worden.

„Psychoterror der Hamas“

Die israelische Armee machte keine Angaben zur Todesursache. Mit dem Tod der 19-Jährigen stieg die Zahl der im Gazastreifen seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas getöteten israelischen Soldaten auf 47. „Die Hamas übt weiter Psychoterror aus und verhält sich mit dem Veröffentlichen von Videos und Bildern Entführter unmenschlich – so wie sie das auch in der Vergangenheit gemacht hat“, so ein Sprecher der Armee.

Die Videos lösen bei den Angehörigen, die sich ohnehin in einem psychischen Ausnahmezustand befinden, zusätzlich Stress aus. Sie wissen oft nicht, von wann ein Video stammt und ob die Entführten zum jeweils aktuellen Zeitpunkt noch am Leben sind – und wenn ja, wie es ihnen geht. Im Fall von Marciano lässt sich aus ihren Aussagen erkennen, dass das Video wohl wenige Tage nach der Entführung gemacht und erst mehr als einen Monat später von der Hamas für ihre eigenen Zwecke veröffentlicht wurde. Es soll unter anderem wohl den Druck auf Israels Regierung, mit den Bombardements in Gaza aufzuhören, erhöhen.

Protestmarsch der Angehörigen nach Jerusalem

In Israel machen die Familien der Entführten, unterstützt von weiten Teilen der Bevölkerung, Druck auf die Regierung, die Verhandlungen zu beschleunigen und zu priorisieren. Auch am Dienstag demonstrierten Hunderte vor dem Regierungssitz in Tel Aviv und forderten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Bedingungen offen zu benennen und „mit Taten“ zu ihnen zu sprechen.

Es war der Startschuss eines Protestmarschs von Tel Aviv nach Jerusalem zur Residenz von Netanjahu. Die Regierung hat nach längerem Zögern die Freilassung der Entführten neben der „Zerstörung“ der Hamas als zweites, gleichwertiges Kriegsziel genannt.

Kriegleder (ORF) zur Situation der Geiseln

ORF-Korrespondent David Kriegleder spricht unter anderem über einen von Premier Benjamin Netanjahu angedeuteten Deal zur Freilassung der Geiseln.

Hamas: Bei Waffenruhe bereit zu Freilassung von Geiseln

Gegenüber Vermittlern aus Katar erklärte der bewaffnete Flügel der Hamas am Montag, die Gruppe sei bereit, im Gegenzug für eine fünftägige Waffenruhe bis zu 70 im Gazastreifen festgehaltene Frauen und Kinder freizulassen. Abu Ubaida beschuldigte Israel, den Preis für das Abkommen „hinauszuzögern und sich zu drücken“.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) forderte laut eigenen Angaben am Dienstag im Rahmen der Geiselverhandlungen von der Hamas Zugang zu den Entführten. Das IKRK reagierte damit auch auf Kritik aus Israel, das stärkere Bemühungen der Roten Kreuzes fordert.

Augenzeugen: Gefechte bei Al-Schifa-Spital

Unterdessen spitzt sich die humanitäre Situation in Gaza weiter dramatisch zu. Seit drei Tagen ist das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt ohne Strom und Wasser. Vor dem Gebäudekomplex gab es Augenzeugenberichten zufolge Gefechte. Am Montagabend appellierte US-Präsident Joe Biden an Israel, „weniger einschneidende Maßnahmen“ zu ergreifen: „Das Krankenhaus muss geschützt werden.“ Die USA stünden mit Israel deswegen in Kontakt, so Biden.

Entgegen Behauptungen der Hamas betonte die WHO am Dienstag, al-Schifa sei weiter in Betrieb. WHO-Sprecherin Margaret Harris sprach von einem „heroischen Einsatz“ des verbliebenen Personals, das sich bemühe, die noch rund 700 Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen. Laut Hamas-Angaben wurden mittlerweile auf dem Gelände des Spitals Dutzende Leichen, die bereits zu verwesen begonnen hätten, begraben.

Israel: Hamas missbraucht Spitäler als Kommandozentren

Israel wirft der Hamas vor, Krankenhäuser als Kommando- und Kontrollzentren zu missbrauchen, dazu zählt etwa das Al-Kuds-Krankenhaus. 21 Hamas-Terroristen wurden laut israelischer Armee am Montag bei Kämpfen dort getötet. Israelische Soldaten seien von Terroristen mit zwei Panzerfäusten und kleineren Waffen aus dem Eingangsbereich des Krankenhauses beschossen worden. Die Angreifer hätten sich unter eine Gruppe von Zivilisten gemischt.

Das Al-Kuds-Krankenhaus mit 700 Betten ist das zweitgrößte Krankenhaus im Gazastreifen. Zuvor berichtete der Palästinensische Rote Halbmond von einer abgebrochenen Evakuierungsaktion. Ein vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) begleiteter Evakuierungskonvoi habe am Montag wegen anhaltender Kampfhandlungen wieder umkehren müssen, teilte der Rote Halbmond in sozialen Netzwerken mit. Hamas-Vertreter forderten einen Waffenstillstand für die Evakuierung, den Israel ohne Freilassung der von der Hamas gehaltenen Geiseln aber ablehnt. Laut Hamas sind 25 von 35 Spitälern und Ambulanzen nicht mehr in Betrieb.

Medizinische Einrichtungen in Gaza laut OCHA-Datenbank und OpenStreetMap-Einträgen, zum Zoomen Touchscreen oder blaue Buttons (rechts) verwenden

Israel: „Hinweise“ auf Geiselverstecke in Spital

Laut eigenen Angaben fand die israelische Armee „Hinweise“ auf Geiselverstecke der Hamas in dem Kinderkrankenhaus Al-Rantisi. Als Belege zeigte Armeesprecher Daniel Hagari in einem Video unter anderem eine Babyflasche und ein an einem Stuhl befestigtes Seil. Das würde nun untersucht. Die Armee verfüge auch über Geheimdienstinformationen, die das bestätigen.

Hagari: „Außerdem haben wir Beweise dafür gefunden, dass Hamas-Terroristen des Massakers vom 7. Oktober in dieses Krankenhaus zurückgekehrt sind“, erklärte der Armeesprecher. Er zeigte unter anderem ein Motorrad „mit Einschusslöchern“, das „von Hamas-Terroristen während des Massakers vom 7. Oktober benutzt wurde“. Es seien auch Waffen im Keller des Krankenhauses gefunden worden. Das Al-Rantisi-Spital war am Sonntag evakuiert worden. Hamas-Führer Chalil al-Haja sagte dem Sender al-Jazeera, es handle sich um falsche Vorwürfe Israels.

WHO: Al-Schifa-Spital „nicht mehr funktionsfähig“

Als „nicht mehr funktionsfähig“ bezeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Al-Schifa-Spital in Gaza-Stadt. Inzwischen boten israelische Streitkräfte eigenen Angaben zufolge die Lieferung von Brutkästen für Frühchen an. „Wir haben den Gesundheitsbehörden in Gaza das formelle Angebot unterbreitet, Brutkästen in den Gazastreifen zu bringen, um der Kinderklinik im Al-Schifa-Krankenhaus zu helfen“, sagte eine Sprecherin der für Kontakte mit den Palästinensern zuständigen israelischen Militärbehörde COGAT in einem am Dienstag veröffentlichten Video.

Das UNO-Nothilfebüro (OCHA) teilte mit, 36 Frühchen, die auf Brutkästen und damit auf Strom angewiesen sind, sowie mehrere Dialysepatienten seien wegen des Stromausfalls in akuter Lebensgefahr. Das Areal um das größte Spital in Gaza ist im Fokus der israelischen Offensive gegen die radikalislamische Hamas. Israel vermutet unter dem Spital einen zentralen Hamas-Kommandoposten.

Zahl der Menschen in Spitalskomplex unklar

Im Krankenhaus sollen sich noch einige tausend Menschen aufhalten, darunter rund 650 Patientinnen und Patienten. Außerdem sollen sich um die 2.500 Flüchtlinge auf dem Krankenhausgelände aufhalten. Eine Bestätigung der Angaben gibt es nicht.

Treibstoffmangel: UNRWA schlägt Alarm

Die WHO hatte am Wochenende gesagt, dass von den 36 Spitälern und Ambulatorien des Gazastreifens noch 16 – teils nur notdürftig – in Betrieb seien. Nach Angaben des UNO-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) hat es keinen Treibstoff mehr. In den kommenden Tagen werde das UNRWA nicht mehr in der Lage sein, Krankenhäuser zu versorgen, Abwasser zu beseitigen und Trinkwasser bereitzustellen, teilte UNWRA-Chef Philippe Lazzarini mit.

Der Treibstoffmangel könnte der UNO zufolge in den kommenden Tagen auch die Lieferung von humanitärer Hilfe empfindlich stören. So fehle etwa Treibstoff für die Gabelstapler um eintreffende Lkws zu entladen. Via den ägyptischen Grenzübergang Rafah kommen derzeit laut Palästinensischem Rotem Halbmond im Durchschnitt 47 Lastwagen täglich mit Hilfslieferungen an.

Parlament in Gaza eingenommen

Unterdessen nahm die Armee laut eigenen Angaben das Parlament in Gaza und mehrere weitere Verwaltungsgebäude der Hamas ein. In sozialen Netzwerken kursierte am Montagabend ein Foto, das Soldaten der Infanterieeinheit Golani mit israelischen Flaggen in dem Sitzungssaal des Legislativrats im Viertel Rimal zeigt. Die Hamas hatte 2006 bei der Parlamentswahl gegen die gemäßigtere Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas gesiegt. Ein Jahr später übernahm die Hamas gewaltsam die alleinige Kontrolle des Gazastreifens.

Die USA und Großbritannien verhängten unterdessen neue Sanktionen gegen die Hamas. Im Fokus stehen dabei die Geldtransfers aus dem Iran, etwa via Libanon, an die Hamas.

Seit Beginn der israelischen Bodeneinsätze im Gazastreifen vor rund zwei Wochen führte das Militär eigenen Angaben zufolge rund 4.300 Angriffe aus. Nach Aussagen des israelischen Verteidigungsministers Joav Galant vom Montagabend hat die Hamas „die Kontrolle in Gaza verloren“. Belege für seine Aussage gab er aber nicht.