Im vergangenen Winter war die lebenswichtige Energieinfrastruktur ein Hauptziel der Attacken Russlands geworden, sie sollten der Zermürbung der Bevölkerung dienen. Über 1.200 Raketen und Drohnen wurden auf Werke des staatlichen Netzbetreibers Ukrenerho abgefeuert, zeitweise waren so 45 Prozent des Hochspannungsnetzes und die Hälfte der Energieerzeugung der Ukraine außer Gefecht. Weil das Stromnetz noch aus der Sowjetzeit stammt und in Moskau die entsprechenden Pläne vorhanden sind, weiß Russland, wo die neuralgischen Punkte der ukrainischen Versorgung liegen.
„Wir hatten nach der Invasion bereits Maßnahmen getroffen, um das Netz zu schützen, aber nicht mit Angriffen in diesem Ausmaß gerechnet“, zitierte der „Spiegel“ Maxim Timtschenko, den Vorstandsvorsitzenden des größten ukrainischen Energiekonzerns DTEK. „In diesem Jahr sind wir viel besser vorbereitet.“ Das bestätigte auch Ukrenerho-Chef Wolodymyr Kudrytskyj: „Wir haben verschiedene bauliche Lösungen gegen Raketen und Kamikazedrohnen.“ Tonnen von Sand und Beton sollen nun die Leistungstransformatoren in den Umspannwerken schützen.
Luftverteidigung spielt Schlüsselrolle
Die wichtigste Schutzebene ist aber die Luftverteidigung, die nun deutlich besser als im vergangenen Jahr aufgestellt ist. Kiew hat von seinen westlichen Verbündeten zahlreiche Waffen zur Stärkung seiner Luftabwehr erhalten, darunter das US-Abwehrsystem Patriot. Dennoch rechnet die Ukraine wieder mit schweren Angriffen, ein Indiz dafür könnte sein, dass Russland seine Raketen monatelang sparsam eingesetzt hatte – vermutlich, um sie für den Winter bereitzuhalten.
Zugleich scheint derzeit fraglich, ob die umfangreichen westlichen Hilfen anhalten. Mehrere Mitgliedsstaaten der EU sträuben sich gegen den Plan des Außenbeauftragten Josep Borrell, von 2024 bis 2027 zusätzliche 20 Milliarden Euro militärische Hilfe für die Ukraine zu mobilisieren. Außerdem wurde am Dienstag bei einem Treffen der EU-Verteidigungsminister bekannt, dass die der Ukraine bis 2024 versprochene eine Million Schuss Munition nicht rechtzeitig geliefert werden dürfte.
Russische Offensive im Osten, ukrainische im Süden
Indes ist die ukrainische Armee mit vermehrten russischen Angriffen im Osten des Landes konfrontiert, insbesondere rund um die Industriestadt Awdijiwka. „Die Armee meldete eine Zunahme der feindlichen Angriffe“, schrieb Präsident Selenskyj am Dienstag auf Telegram. Das betreffe auch Gebiete um Kupjansk und Donezk. Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer bestätigte gegenüber ntv die Angaben: „Awdijiwka ist von einer Einschließung bedroht. Die Russen gehen hier mit ihren eigenen Kräften sehr rücksichtslos um. Sie versuchen permanent, mit kleinen Kampfgruppen anzugreifen, vor allem im Raum südlich von Kupjansk bis Swatowe.“
Im Süden der Ukraine sieht es Berichten zufolge anders aus, hier dürfte die Ukraine in der Offensive sein. Nach Angaben russischer und ukrainischer Militärblogger und anderer Fachleute, die offen zugängliches Geheimdienstmaterial ausgewertet haben, hält die ukrainische Armee seit Ende Oktober Stellungen am russisch besetzten Ufer des Flusses Dnipro. Das gelte insbesondere für das Dorf Krynky in der südukrainischen Region Cherson.
Sendungshinweis
Ein weiterer Kriegswinter in der Ukraine steht bevor – wer wird wie betroffen sein? Cornelia Scholz, Geo-Informationsspezialistin, am Mittwoch um 13.00 Uhr zu Gast in „Punkt eins“ – mehr dazu in oe1.ORF.at.
Kein Ende im Abnutzungskrieg
Der Abnutzungskrieg hält Reisner zufolge an: „Beide Seiten versuchen, sich gegenseitig dazu zu zwingen, Reserven einzusetzen. Die Russen wollen erreichen, dass die ukrainischen Truppen ihre kostbaren Reserven im Nordosten verbrauchen. Die Ukraine versucht mit dem Überschreiten des Flusses im Süden die Russen dazu zu bringen, kostbare Reserven aus dem Nordosten Richtung Süden zu verlegen, damit diese Kräfte nicht mehr für die offensive Einsatzführung zur Verfügung stehen.“
Bei einem Besuch in den USA äußerte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, die Hoffnung auf einen Wendepunkt in der Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg. „Das nächste Jahr wird für uns entscheidend“, sagte Jermak. Die Luftüberlegenheit Russlands müsse gebrochen werden. Dafür benötige Kiew mehr Flugabwehr von den Verbündeten. „Ich sage Ihnen die Wahrheit: Dieser Winter wird für uns auch sehr schwer.“
Reisner hielt dazu gegenüber ntv fest: „Das Schwergewicht der Unterstützungsleistungen des Westens müsste jetzt im Bereich der Fliegerabwehr liegen, weil die Ukraine damit einer möglichen neuen strategischen Luftkampagne der Russen etwas entgegensetzen kann. Nur wenn das gelingt, kann die Ukraine ihre kritische Infrastruktur erhalten, kann sich parallel dazu neu ordnen und dann im Frühjahr wieder in die Offensive gehen.“