Familienmitglieder und Freunde von Geiseln auf einem Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem
Reuters/Ammar Awad
Protestmarsch

Unmut über Netanjahu wächst

Mit einem Protestmarsch richten sich Angehörige und Freunde der etwa 240 Geiseln in Händen der Terrororganisation Hamas an die israelische Regierung. Sie wissen die Bevölkerung an ihrer Seite. Jüngste Umfragen zeigen, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nur wenig Vertrauen und Rückhalt im Land genießt. Auch Rücktrittsforderungen gibt es.

Die Angehörigen der Geiseln brachen am Dienstag von Tel Aviv aus zu ihrem Protestmarsch auf und wollten am Samstag im 63 Kilometer entfernten Jerusalem ankommen. Dort wollten sie zu Netanjahus Amtssitz ziehen und ihn zu einem Treffen auffordern, wie die Organisation der Angehörigen mitteilte. „Treffen Sie uns und erklären Sie, welche Bedingungen Israel für einen Austausch von Geiseln stellt“, stand in einer Erklärung. Alle Israelis seien aufgerufen, sich dem Marsch und der Forderung nach Freilassung der Verschleppten anzuschließen.

Viele Tausende solidarisieren sich mit täglich neuen Demonstrationen und Installationen mit den Angehörigen. Jeden Abend finden sich Menschen vor dem Verteidigungsministerium ein, um für die Freilassung der Geiseln zu protestieren und um gemeinsam an sie zu denken. Sie singen Lieder, zeigen Bilder der Entführten und erzählen bewegende Geschichten. Eine riesige Kunstinstallation füllt den HaBima-Platz in Tel Aviv und bietet ein leeres Bett für jeden Erwachsenen, jedes Kind und jedes Paar, das im Gazastreifen vermisst wird.

Israel: Fußmarsch für Geiseln der Hamas

Am Dienstag brachen Angehörige und Unterstützerinnen und Unterstützer der etwa 240 Geiseln in den Händen der Terrororganisation Hamas von Tel Aviv aus zu einem 63 Kilometer langen Fußmarsch zum Amtssitz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem auf. Fünf Tage soll der Marsch dauern. Alle Israelis seien aufgerufen, sich dem Marsch anzuschließen.

Wachsende Angst um die Geiseln

Mit jedem Tag wächst die Angst um die Geiseln, und viele haben nur eine einzige Forderung an Netanjahu: Die Geiseln müssen befreit werden. „Seit zwei Wochen zeigen die Umfragen, dass die oberste Priorität der Israelis die Rückkehr der Geiseln ist“ und nicht mehr, wie zu Beginn des Krieges, die Bekämpfung der Hamas, sagte Daniel Schek, der früher israelischer Botschafter in Frankreich war und dem Forum der Familien von Geiseln und Verschwundenen angehört.

Netanjahu hatte am Sonntag eine mögliche Vereinbarung zur Freilassung von Frauen, Kindern und alten Menschen, die sich in der Gewalt der Hamas befinden, angedeutet. „Bis sie hier sind, sicher und wohlbehalten, hat das für uns keine Bedeutung“, sagte dazu eine Angehörige zur AFP. „Es ist gegen die Menschlichkeit, Kinder zu entführen“, sagte eine andere der BBC. Die Führung lasse die Geiseln im Stich.

Die Installation „Empty Beds“ mit  241 leeren Betten auf dem HaBima-Platz in Tel Aviv (Israel)
APA/AFP/Jack Guez
Ein leeres Bett für jede Geisel

Rückhalt für Netanjahu schwindet

Netanjahus Beliebtheitswerte sind in Israel denn auch auf einem historischen Tiefstand. In einer Umfrage Anfang November wünschten sich 76 Prozent der israelischen Bevölkerung, dass Netanjahu noch während oder nach dem Krieg zurücktritt. 64 Prozent sprachen sich für eine Neuwahl unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen aus. So wie die Stimmung im Lande ist, dürfte spätestens dann Netanjahus politisches Aus bevorstehen.

Die Politikwissenschaftlerin an der Hebräischen Universität Jerusalem und Netanjahu-Expertin, Gajil Talschir, rechnet mit einem sehr baldigen Ende der rechts-religiösen Regierung, sobald sich die Situation in Gaza in irgendeiner Weise stabilisiert hat – unter der Voraussetzung, dass die Hisbollah nicht in den Krieg einsteigt. Genauso möglich hält es Talschir, dass die Proteste so groß werden, dass sie Netanjahu förmlich aus dem Amt zwingen, auch wenn sich niemand einen freiwilligen Abgang Netanjahus vorstellen könne.

Familienmitglieder und Freunde von Geiseln auf einem Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem
Reuters/Ammar Awad
Demonstranten fordern die sofortige Freilassung der Geiseln

Nicht erst seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober steht Netanjahu in der Kritik. Seit Jahren laufen verschiedene Verfahren wegen Korruption und Machtmissbrauchs gegen ihn. Zuletzt strebte seine Regierung eine breit kritisierte Justizreform an, die den Obersten Gerichtshof schwächen sollte. Dagegen gingen bei Samstagabenddemos wöchentlich bis zu 350.000 Israelis auf die Straße.

„Grenze überschritten“

Am 7. Oktober hatten Terroristen der islamistischen Hamas und anderer Gruppen ein Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten im israelischen Grenzgebiet verübt. Israelischen Angaben zufolge wurden etwa 1.200 Menschen in Israel getötet und rund 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Vier wurden später freigelassen und eine befreit. Wie viele von den anderen noch am Leben sind, ist unklar.

Familienmitglieder und Freunde von Geiseln auf einem Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem
Reuters/Ilan Rosenberg
Angehörige auf ihrem 63 Kilometer langen Fußmarsch nach Jerusalem

Der bewaffnete Arm der Hamas erklärte diese Woche, er sei bereit, im Gegenzug für einen fünftägigen Waffenstillstand bis zu 70 im Gazastreifen festgehaltene Frauen und Kinder freizulassen. US-Präsident Joe Biden sagte, dass er täglich über die Freilassung der Geiseln diskutiere und glaube, dass das geschehen werde.

Die Hauptkomplikation für eine mögliche Vereinbarung sei das Ausmaß der Gräueltaten, sagte der israelische Friedensaktivist Gerschon Baskin. „Was die Hamas getan hat, hat eine Grenze überschritten, an der es unvorstellbar ist, dass sie nach dem Ende dieses Krieges weiterhin an der Macht in Gaza bleiben wird“, so Baskin. „Es gibt also eine Art Widerspruch zu dem Versuch, mit den Menschen zu verhandeln, die man töten will.“

Familienmitglieder und Freunde von Geiseln auf einem Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem halten ein Bild mit entführten Geiseln in die Höhe
Reuters/Ammar Awad
Mit jedem Tag wächst die Angst

Seit dem Hamas-Angriff greift das israelische Militär Ziele im Gazastreifen an, inzwischen sind auch Bodentruppen in das Palästinensergebiet eingedrungen. Israels Verteidigungsminister Joav Galant erklärte, die Hamas habe „die Kontrolle in Gaza“ verloren. Israel ruft die Zivilbevölkerung in der Stadt Gaza und im Norden seit Wochen dazu auf, sich zu ihrer eigenen Sicherheit in den Süden des abgeriegelten Küstenstreifens zu begeben.