Israelische Soldaten vor dem Al-Schifa-Spital
APA/AFP/Israeli Defence Forces
Augenzeugenbericht

Hunderte bei Al-Schifa-Razzia durchsucht

Nach tagelangen Kämpfen mit der islamistischen Hamas um das größte Krankenhaus im Gazastreifen hat die israelische Armee in der Nacht auf Mittwoch die Al-Schifa-Klinik gestürmt. Die „gezielte Operation“ gegen im Gebäudekomplex vermutete Hamas-Mitglieder ist israelischen Angaben zufolge weiter im Gange. Bestätigte Angaben über die Vorgänge im Spital gibt es nicht – laut einem Augenzeugenbericht seien bei der Razzia aber Hunderte Männer durchsucht worden.

„Alle Männer ab 16 Jahren heben die Hände und verlassen das Gebäude“, sei als Anweisung auf Arabisch aus einem Lautsprecher zu hören gewesen, wie ein offenbar seit Tagen im Spital festsitzender Journalist gegenüber der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Rund 1.000 Männer seien aufgefordert worden, sich in einen zentralen Hof auf dem Spitalsgelände zu begeben.

Viele von ihnen seien zuvor nach Waffen und Sprengstoff durchsucht worden. Auf der Suche nach Hamas-Kämpfern hätten israelische Soldaten das Spital von Raum zu Raum durchsucht. Auch Warnschüsse seien gefallen. Den AFP-Angaben zufolge seien auch Frauen durchsucht worden. „Manche müssen durch Terminals mit Erkennungskameras – den gleichen, wie sie entlang der Evakuierungskorridore in den südlichen Gazastreifen aufgestellt wurden“, berichtete die Nachrichtenagentur mit Verweis auf Augenzeugen.

Israel dringt in Spital in Gaza ein

Die israelischen Streitkräfte führen nach eigenen Angaben in Teilen des größten Krankenhauses in Gaza-Stadt, in denen sie die Hamas vermuten, gezielte Militäroperationen durch.

„Präzise und gezielt“

Israel bezeichnete den Einsatz zuvor als „eine präzise und gezielte Operation gegen die Hamas in einem bestimmten Bereich des Al-Schifa-Spitals“. Der Einsatz gehe weiter – Kampfhandlungen im Spital wurden von den israelischen Streitkräften aber dementiert. Den Armeeangaben zufolge seien vor der Erstürmung des Spitals mehrere Hamas-Terroristen getötet worden. Im Spital selber habe man dann Waffen gefunden.

Aus Beobachtersicht bleiben viele Details offen – auch gebe es kaum Bilder aus dem Spitalskomplex, wie etwa die britische BBC berichtete. Laut Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums seien auch Panzer auf das Krankenhausgelände gefahren. Zudem habe man „Dutzende Soldaten (…) in den Notaufnahme- und Empfangsgebäuden“.

Israel: Hinweis auf zentrale Kommandozentrale

Die Erstürmung des Krankenhauses markiert für Israel ein wichtiges Ziel seines Feldzugs zur Zerschlagung der Hamas. Der Einsatz ziele auf eine Kommandozentrale der Hamas auf dem Gelände ab. Der Sprecher der israelischen Armee, Peter Lerner, sagte gegenüber CNN, das Krankenhaus und der Komplex seien für die Hamas „ein zentraler Knotenpunkt ihrer Operationen, vielleicht sogar das schlagende Herz und vielleicht sogar ihre Schaltzentrale“.

US-Geheimdienstquellen bestätigten Angaben Israels zu einer Hamas-Zentrale auf dem Klinikgelände. Die Hamas und der Islamische Dschihad „betreiben einen Kommando- und Kontrollknotenpunkt von al-Schifa in Gaza-Stadt aus“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Dienstag (Ortszeit).

Hamas: Grünes Licht von USA

Die Hamas machte US-Präsident Joe Biden für die Stürmung des Krankenhauses verantwortlich. Der falsche Vorwurf der USA, wonach „der Widerstand“ das Krankenhaus für militärische Zwecke nutze, habe Israel grünes Licht für „weitere Massaker an Zivilisten“ gegeben, so die islamistische Terrororganisation.

Das Weiße Haus distanzierte sich von der Militäraktion. „Wir unterstützen keine Luftangriffe auf ein Spital und wollen auch keine Feuergefechte in einem Spital sehen“, sagte ein Vertreter des Nationalen Sicherheitsrats der USA am Dienstagabend (Ortszeit). Spitäler, Patientinnen und Patienten „müssen geschützt werden“.

Tim Cupal (ORF) über die Lage in Gaza

ORF-Korrespondent Tim Cupal über die Militäroperation der israelischen Armee, bei der Streitkräfte in das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt eingedrungen sind.

Die Palästinensische Autonomiebehörde verurteilte den israelischen Einsatz als „eklatante Verletzung“ des Völkerrechts. Das palästinensische Außenministerium forderte ein „dringendes internationales Eingreifen, um die dortigen Zivilisten zu schützen“. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem „Krieg gegen die Existenz der Palästinenser“.

Nach UNO-Angaben befinden sich mindestens 2.300 Personen in der Klinik, die nach tagelangen Kämpfen und Luftangriffen komplett abgeriegelt ist – darunter rund 700 Patientinnen und Patienten. Zeugen beschrieben die Zustände in der Klinik als verheerend: Medizinische Eingriffe fänden ohne Betäubung statt, es gebe kaum noch Wasser, Nahrung und Treibstoff.

UNO-Nothilfekoordinator bestürzt

Die UNO und das Rote Kreuz zeigten sich äußerst besorgt um die Sicherheit von Patienten, Flüchtlingen und medizinischem Personal in der Klinik. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths zeigte sich auf Twitter (X) „entsetzt“ über das Vordringen von Soldaten in die Klinik. „Krankenhäuser sind kein Schlachtfeld“, erklärte er.

Jordanien machte dem UNO-Sicherheitsrat schwere Vorwürfe. „Die Katastrophe im Al-Schifa-Krankenhaus zeigt die Barbarei, die der UNO-Sicherheitsrat durch sein Schweigen zulässt“, sagte Außenminister Aiman Safadi.

Hamas: 11.500 Tote in Gaza

Israel reagierte mit seiner Offensive auf den beispiellosen Terrorangriff der Hamas im Süden Israels mit mehr als 1.200 Toten, nach jüngsten Angaben der israelischen Polizei waren darunter mindestens 859 Zivilistinnen und Zivilisten. Zudem entführten die Terroristen rund 240 Menschen in den Gazastreifen. Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist seit Kriegsbeginn nach Angaben der Hamas-Verwaltung auf über 11.500 gestiegen.

OCHA: Al-Ahli-Spital noch im „Minimalbetrieb“

Im nördlichen Gazastreifen nimmt nach UNO-Angaben angesichts der Kämpfe und wegen Treibstoffmangels nur noch ein Krankenhaus Patienten auf. Das Al-Ahli-Spital in Gaza-Stadt sei als einziges noch im „Minimalbetrieb“, teilte das UNO-Nothilfebüro (OCHA) in der Nacht auf Mittwoch mit.

„Alle anderen haben den Betrieb wegen eines Mangels an Strom, medizinischem Material, Sauerstoff, Essen und Wasser eingestellt.“ Im Al-Ahli-Krankenhaus seien derzeit etwa 500 Patienten untergebracht. Die Lage der ohnehin am Anschlag arbeitenden Kliniken im gesamten Gazastreifen hat sich in den vergangenen Tagen dramatisch verschlechtert. 22 der insgesamt 36 Krankenhäuser und Ambulanzen haben laut WHO den Betrieb komplett eingestellt.

UNRWA: Benzin als Waffe eingesetzt

Wegen Treibstoffmangels könnte die humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen nach Einschätzung des UNO-Hilfswerkes für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) bald zusammenbrechen. Das Treibstoffdepot sei leer.

Seit Beginn des Krieges werde Benzin als Waffe eingesetzt, so das UNRWA. UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini rief alle Parteien dazu auf, Treibstoff zur Verfügung zu stellen und humanitäre Hilfe nicht für politische oder militärische Zwecke zu missbrauchen.

Israel kam eigenen Angaben zufolge indes einer Anfrage der US-Regierung nach und kündigte am Mittwoch die Betankung der von der UNO eingesetzten Lkws an. Kurz darauf passierte am Mittwoch erstmals seit Beginn der israelischen Gaza-Offensive ein Treibstoff-Lkw die Grenze von Ägypten in den Gazastreifen.

Ausfall von Kommunikation angekündigt

Man habe zwar rund 23.000 Liter Treibstoff und damit eine halbe Lkw-Ladung erhalten, bestätigte Thomas White vom UNRWA. So wie von Israel angekündigt dürfe der Treibstoff aber nur für den Transport von Hilfsgütern verwendet werden – es gebe somit auch weiterhin keinen Treibstoff für Wasserförderung und Spitäler, so White, dem zufolge etwa in der Grenzstadt Rafah mittlerweile alle Wasserpumpen außer Betrieb seien.

Wegen fehlenden Treibstoffs für die Stromerzeugung droht nach palästinensischen Angaben zudem der Totalausfall der Kommunikationsnetze im Gazastreifen. Die Hauptrechenzentren müssten nach und nach außer Betrieb gehen, schrieb das im Westjordanland ansässige palästinensische Unternehmen Paltel auf Facebook. Derzeit funktionierten die zentralen Netzwerkelemente ausschließlich mit Batterien.

Regen verschärft humanitäre Lage

Unterdessen schürten auch heftige Regenfälle im Gazastreifen die Sorgen vor einer weiteren Verschärfung der humanitären Lage. „Unsere Unterkunft ist nicht geeignet, um darin im Winter zu leben“, sagte die Palästinenserin Hiba Sajid, die mit ihrer Familie in ein UNRWA-Flüchtlingslager im Süden geflohen war.

Am Dienstag war es zu den ersten größeren Regenfällen seit Beginn des Krieges am 7. Oktober im Gazastreifen gekommen. Auf Videos in sozialen Netzwerken waren überschwemmte Straßen zu sehen und Menschen, die versuchten, zusammengebrochene Zelte wieder aufzubauen. In den Wintermonaten wird mit einer deutlichen Zunahme des Niederschlags gerechnet, der in Gaza bereits vor dem Krieg häufig zu Überschwemmungen führte.