Israelische Soldaten in Gaza
Reuters/Israel Defense Forces
„Kein Vakuum hinterlassen“

Israel diskutiert Nachkriegsordnung

Israel muss nach Einschätzung von Präsident Jizchak Herzog nach einem Ende des Krieges in Gaza Präsenz zeigen, um ein Wiedererstarken der radikalislamischen Hamas zu verhindern. „Wenn wir uns zurückziehen, wer wird dann übernehmen? Wir können kein Vakuum hinterlassen. Wir müssen darüber nachdenken, wie der Mechanismus aussehen wird“, so Herzog zur „Financial Times“ („FT“, Donnerstag-Ausgabe). Ihm zufolge sollen Israels Nachbarn und die USA dabei eine Rolle spielen.

„Niemand wird diesen Ort, Gaza, wieder in eine Terrorbasis verwandeln wollen“, so der Präsident. Die israelische Regierung diskutiere derzeit mehrere Ideen, wie eine Nachkriegsordnung aussehen könnte. „Um zu verhindern, dass der Terror wieder aufkommt, müssen wir eine sehr starke Truppe haben, um sicherzustellen, dass sie engagiert genug ist und es (der Angriff, Anm.) nicht (wieder) passiert“, so Herzog, der keine Exekutivbefugnisse hat.

Herzogs Äußerungen kommen in einer Zeit, in welcher der internationale Druck auf Israel wegen der steigenden Zahl der Todesopfer im Gazastreifen und der sich verschärfenden humanitären Krise in dem seit 2007 von der Hamas kontrollierten Gebiet mit rund 2,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zunimmt.

USA besorgt wegen möglicher neuer Besetzung

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versprach, die Hamas zu eliminieren, die tief in der Gesellschaft des Palästinensergebiets verankert ist und über politische und militärische Flügel verfügt. Doch der Westen zeigte sich besorgt darüber, dass Israel keinen klaren Plan habe, wie es mit dem Gazastreifen weitergehen soll.

Isaac Herzog
AP/Jacquelyn Martin
Herzog hat keine Exekutivbefugnisse, wird aber von der Armee laufend über den Krieg unterrichtet

Geht es nach Netanjahu, werde Israel auf unbestimmte Zeit die „Gesamtsicherheitsverantwortung“ für den Gazastreifen behalten. Die US-Regierung erklärte ebenfalls, dass eine Übergangszeit notwendig sein könnte, doch warnte sie Israel davor, den Gazastreifen wieder zu besetzen. Auch vor einer anderen Grenzziehung in Hinblick auf die Größe des Gebiets warnten die USA. Israel zog sich 2005 aus dem Gebiet zurück.

„Ich habe den Israelis klargemacht, dass es meiner Meinung nach ein großer Fehler ist zu glauben, sie würden Gaza besetzen und Gaza behalten“, sagte Biden laut Mitteilung des Weißen Hauses am Mittwoch (Ortszeit) bei einer Pressekonferenz bei San Francisco. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert.“ Auf die Frage, wie lange Israel gegen die Hamas vorgehen werde, sagte Biden: „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange das dauern wird. Aber ich kann Ihnen sagen, ich glaube, dass es nicht endgültig endet, bis es eine Zweistaatenlösung gibt.“

„Der Tod von Palästinensern tut mir leid“

Israel forderte die Palästinenser am Donnerstag erneut auf, den dicht besiedelten Norden des Gazastreifens, der im Mittelpunkt der Militäroperationen steht, zu verlassen und nach Süden zu ziehen. Die Sicherheit könne im Norden nicht garantiert werden. „Der Tod von Palästinensern tut mir leid. Es bricht mir das Herz“, sagte Herzog. „Aber ich denke immer daran, dass ich zuallererst die Sicherheit gewährleisten muss, um unser Volk zu verteidigen.“

Selbst Israels treueste Verbündete haben sich besorgt über die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen geäußert. So sagte US-Außenminister Antony Blinken letzte Woche, dass „viel zu viele Palästinenser getötet wurden“. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte gegenüber der BBC, Israel müsse „die Bombardierung stoppen“.

Herzog: Geiselfreilassung als oberste Prämisse

Herzog sagte zur „FT“, Israel wolle „in erster Linie“ die Freilassung der rund 240 Geiseln erreichen, die die Hamas bei ihrem Angriff auf Südisrael am 7. Oktober gefangen genommen hatte. Die internationale Gemeinschaft verstehe das und unterstütze das Recht Israels, sich zu verteidigen, so der israelische Präsident. Jedoch gab er gegenüber der Zeitung zu bedenken: „Wie kann ich das Recht haben, mich zu verteidigen, wenn ich die militärischen Fähigkeiten der Hamas nicht auslöschen kann?“ Israel brauche daher internationale Hilfe.

Israel setzt Angriffe in Gaza fort

Israel hat am Donnerstag zum zweiten Mal binnen 24 Stunden das Al-Schifa-Krankenhaus gestürmt. Die Armee könnte ihre Offensive auf Südgaza ausweiten.

Katar, das das politische Büro der Hamas beherbergt, vermittelte indirekte Gespräche zwischen Israel und der Terrorgruppe, um ein Abkommen zur Freilassung ziviler Geiseln zu erreichen. Herzog machte die Hamas für das Ausbleiben einer Einigung verantwortlich und sagte in dem Interview mit der „FT“: „Wir haben noch nicht einmal eine Information über unsere Geiseln erhalten.“ Also müsse Israel weiter kämpfen und sie retten, so Herzog.

Angriff auf Al-Schifa-Krankenhaus

Herzogs Interview mit der „FT“ fand nach Angaben der Zeitung vor dem israelischen Einsatz im Al-Schifa-Krankenhaus im Gazastreifen statt. Die israelische Militäraktion hat in der Nacht auf Mittwoch begonnen und dauert an. Das Vorgehen ist umstritten, weil Spitäler in Kriegszeiten besonders geschützte Orte sind.

Forderung nach Feuerpausen

Der UNO-Sicherheitsrat hat eine Gaza-Resolution mit der Forderung nach Feuerpausen angenommen. Die USA verzichteten auf ein Veto und enthielten sich der Stimme.

Israels Armee erklärte am Donnerstag, Kommando- und Kontrollzentren der Hamas im Spital entdeckt zu haben. Was damit konkret gemeint ist, ließ ein Militärvertreter offen. Unklar ist damit auch, ob die Armee die unter dem Al-Schifa-Krankenhaus vermutete Kommandozentrale der palästinensischen Islamistenorganisation gefunden hat. Die Hamas bestreitet die Existenz einer solchen Basis.

Auch Informationen und Filmmaterial, das Geiseln zeigen soll, entdeckten die Streitkräfte nach Darstellung des Vertreters auf Computern und anderen Geräten in der Klinik. Das Material werde nun geprüft. Weiterhin seien unter anderem Waffen und Geheimdienstmaterial auch über die Massaker vom 7. Oktober gefunden worden.

UNO: Gesundheitssystem in Gaza zusammengebrochen

Nach Angaben der UNO ist das Gesundheitssystem im nördlichen Gazastreifen zusammengebrochen. Alle Krankenhäuser in Nordgaza bis auf eines seien nicht mehr funktionsfähig. Israel wolle die Zivilbevölkerung schützen, hieß es abermals auch von Herzog zur „FT“. Der israelische Präsident sagte, Israel arbeite daran, mehr humanitäre Hilfe in die Enklave zu lassen.

Doch lässt das Militär derzeit nur eine begrenzte Menge an Hilfsgütern in den Gazastreifen, was zu einer akuten Knappheit an Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff führt. Die UNO forderte im Sicherheitsrat per Resolution am Mittwoch erneut Feuerpausen.

Herzog ließ weiters durchblicken, dass die Regierung mit Zypern „eine große Anstrengung“ diskutiere, um Hilfsgüter auf dem Seeweg zu liefern. Zypriotische Beamte würden am Donnerstag nach Israel reisen, um diese Initiative weiterzuverfolgen, so Herzog. „Es stimmt, dass es in Gaza Gebiete gibt, die sich in einer sehr schlechten Situation befinden. Das liegt daran, dass es sich um ein Kriegsgebiet handelt“, sagte der israelische Präsident weiter. „Aber wir versuchen es.“

Hamas-Behörden: Über 11.500 Tote in Gaza

Israel reagiert mit seiner Offensive auf den beispiellosen Terrorangriff der Hamas im Süden Israels mit mehr als 1.200 Toten, nach jüngsten Angaben der israelischen Polizei waren darunter mindestens 859 Zivilistinnen und Zivilisten. Zudem entführten die Terroristen rund 240 Menschen in den Gazastreifen.

Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist seit Kriegsbeginn nach Angaben der Hamas-Verwaltung auf über 11.500 gestiegen. Unabhängig prüfen lässt sich diese Zahl nicht. Die Gesundheitsbehörde im Gazastreifen erklärte am Mittwoch, es sei immer schwieriger, die steigende Zahl ziviler Opfer zu erfassen, da in Teilen des Küstenstreifens Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen kollabiert seien.