Journalist mit Kamera blickt von Sderot Richtung Gaza
APA/AFP/Jack Guez
Gaza

Ungleiches Ringen um Deutungsmacht

Im Krieg um die Deutungsmacht hinkt Israel der Propaganda der Hamas hinterher. Die letzten ausländischen Presseleute haben Gaza verlassen, unabhängige Informationen sind rar. Israels Armee versucht, die Vorwürfe, Zivilistinnen und Zivilisten anzugreifen, mit einer Informationsoffensive zu kontern – ein schwieriges Unterfangen.

Ein blutiger Überfall einer Terrororganisation auf Zivilistinnen und Zivilisten mit rund 1.200 Toten: Das Entsetzen nach dem 7. Oktober war groß. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. International wird viel Kritik an Israel geübt, die Reaktion auf den Terror sei überbordend und treffe zu viele Menschen, die mit der Hamas nichts zu tun hätten: Zivilisten, Frauen, Kinder, Kranke.

Pendel schlägt aus

Der Globale Süden sieht die Palästinenserinnen und Palästinenser vornehmlich als Opfer von israelischer Besatzungspolitik. In Frankreich rufen die Gewerkschaften zu propalästinensischen Demos auf. In ganz Europa keimt in linken und auch in Klimaschutzgruppen Antisemitismus auf. Antisemitische Straftaten haben auch hierzulande Hochkonjunktur, sodass sich Jüdinnen und Juden vielfach nicht mehr als solche erkennbar in die Öffentlichkeit wagen.

Auf TikTok sehen sich Teenager auf der ganzen Welt Videos islamistischer Terrorgruppen an, zuletzt ging ein Brief Osama bin Ladens viral, den er nach dem 11. September 2001 an die USA richtete. Tausende Jugendliche feiern nun den Terrorakt, der die Welt vor 22 Jahren erschütterte.

Die Algorithmen der sozialen Netzwerke bevorzugen Beiträge, die Wut generieren. Einmal in der Schleife gefangen, erhält man endlos Bilder und Videos desselben Schlags – eine andere Sichtweise wird nicht mehr angeboten. Diese Funktionsweise machen sich Hamas und andere Organisationen zunutze, es scheint, als hätten sie damit die Oberhand in der Informationsschlacht erlangt.

Gegenoffensive der Bilder

Israels Armee, deren Informationspolitik auch in den sozialen Netzwerken früher als professionellste der Welt galt, hinkt hinterher. Als Streitkräfte eines demokratischen Staates steht ihnen im Vergleich zu Terrororganisationen nicht jedes Mittel zu, um Stimmung zu erzeugen. Und im Hinblick auf die eigene Bevölkerung und die verbündeten westlichen Demokratien – allen voran die USA – muss sich Israel für seine Taten rechtfertigen.

Weil die Vorwürfe überhandnahmen, entschloss sich die israelische Armee zu einer Informationsoffensive. Zunächst wurden Videos der Terrorattacke vom 7. Oktober vor ausgewählten Politikerinnen und Journalisten gezeigt. Die Bilder waren verstörend und blutig, Israel entschied sich mit Hinblick auf die Angehörigen dazu, sie nicht gänzlich zu veröffentlichen.

Cupal (ORF) zum Druck auf Israel

Der internationale Druck auf Israel, vor allem des Globalen Südens, wird immer größer. Wie das in Israel aufgenommen wird, analysiert ORF-Korrespondent Tim Cupal aus Tel Aviv. Außerdem berichtet er darüber, wie sehr die von beiden Seiten veröffentlichten, verstörenden Bilder bereits Teil des Konfliktes sind.

Später publizierten die Israel Defense Forces (IDF) Bilder und Videos, die zeigen sollten, dass dem Al-Schifa-Spital in Gaza 300 Liter Treibstoff geliefert worden seien, den die Hamas abgefangen habe. Videos von Waffenlagern und Aufzeichnungen der Hamas aus dem Inneren des Krankenhauses wurden präsentiert, ebenso wie Bilder aus den Tunnels unter Gaza. Die Armee zeigte ihre Soldatinnen und Soldaten, die Inkubatoren lieferten, und veröffentlichte Mitschnitte von Telefonaten mit Ärztinnen und Ärzten in Gaza.

All das soll beweisen, dass Israel nicht Krieg gegen die Zivilistinnen und Zivilisten führe, dass es Unbeteiligte schütze und Hilfslieferungen zulasse – und dass auch Angriffe auf geschützte Spitäler notwendig seien, wenn diese von Terroristen als Stützpunkte genutzt würden.

Kaum unabhängige Informationen

Die israelische Informationsoffensive dürfte nicht den gewünschten Effekt erzielen. Auch israelische Informationen werden als Propaganda angezweifelt. Denn unabhängige Informationen sind kaum mehr zu erhalten, inzwischen verließen quasi alle ausländischen Journalistinnen und Journalisten den Gazastreifen. Nur im Süden sind noch einige an Ort und Stelle. Die Spitäler, um die sich zuletzt die Informationsschlacht entsponnen hat, befinden sich im Norden.

Medizinische Einrichtungen in Gaza laut OCHA-Datenbank und OpenStreetMap-Einträgen, zum Zoomen Touchscreen oder blaue Buttons (rechts) verwenden

Die IDF entschlossen sich nun, westliche Presseleute in das Al-Schifa-Krankenhaus zu führen, damit diese die israelische Sichtweise unterstützen. Tagelang hatte es zwischen Armee und Hamas-Kämpfern rund um das Krankenhaus schwere Gefechte gegeben. In der Nacht auf Mittwoch stürmte die Armee den Komplex, unter dem eine Kommandozentrale der Hamas vermutet wurde.

Presse streng kontrolliert

Am Donnerstag wurden Journalistinnen und Journalisten westlicher Medien wie der BBC ins Spital geführt, in dem die Armeeoperation noch immer lief. Hunderte Patienten und medizinisches Personal halten sich dort auf, auch viele Geflüchtete suchen Schutz im Spital. Den Journalisten wurden Kalaschnikows, Munition und Sprengsätze gezeigt, diese soll die Hamas dort zurückgelassen haben. Außerdem seien Beweise vertuscht oder weggeschafft worden. „Das sagt uns, dass die Hamas Krankenhäuser für militärische Zwecke nutzt“, heißt es von der Armee. Auch Laptops seien entdeckt worden, von denen man sich nun Hinweise auf die Geiseln erhofft.

Israelischer Soldat im Al-Shifa-Spital
Reuters/Israel Defense Forces
Israels Armee findet Waffen im Al-Schifa-Spital: Das Bild stammt von den IDF. Westliche Journalisten wurden erst später zugelassen.

Der Besuch der westlichen Medien wurde streng kontrolliert, die Journalisten wurden mit gepanzerten Fahrzeugen eskortiert, im Spital selbst führten sie maskierte Soldaten durch die dunklen Gänge. „Wir hatten nur sehr begrenzte Zeit an Ort und Stelle und konnten dort weder mit Ärzten noch mit Patienten sprechen“, so die BBC.

Hamas streitet ab

Ob Israels Informationsstrategie erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, das Land darf sich keinen Fehler erlauben. Sollten etwa Ungenauigkeiten oder gar Unwahrheiten bei Israels Angaben auffliegen, würden seine Gegner das als Beweis dafür sehen, dass das Land generell lüge.

Auch dieses Problem hat die Hamas nicht in diesem Informationskampf. Sie streitet alle Vorwürfe ab, der Wahrheitsgehalt ist zweitrangig. Ihre eigenen Vorwürfe, die sich gegen Israel richten, müssen ebenso nicht durch Fakten untermauert werden, damit sie verfangen.