Christian Pilnacek
ORF.at/Roland Winkler
Schwere Vorwürfe gegen ÖVP

Heimliche Pilnacek-Aufnahme aufgetaucht

Wenige Wochen nach dem Tod von Christian Pilnacek ist am Dienstag eine heimliche Tonbandaufnahme aufgetaucht, in der der zuletzt suspendierte Justizsektionschef schwere Vorwürfe gegen die ÖVP erhebt. Die ÖVP habe mehrfach versucht, Ermittlungen abzudrehen bzw. Hausdurchsuchungen zu verhindern, so der Tenor. Die Aufnahmen liegen dem ORF und der „Kronen Zeitung“ vor. Der ORF hat die Aufnahmen durch zwei Gutachter überprüfen lassen und legt sie aus Pietätsgründen nur als Abschrift vor.

Aufgenommen wurde das Tondokument laut Bericht der ZIB1 am 28. Juli 2023 kurz nach 21.00 Uhr in einem Wiener Innenstadtlokal. Der ORF kann die Echtheit der Aufnahmen nicht mit letzter Sicherheit bestätigen, hat aber alles unternommen, um mögliche Manipulationen zu entdecken – Clip und Stimme wurden jeweils im Zuge der Gutachten geprüft.

In dem Lokal führte Pilnacek ein Gespräch mit zwei Bekannten – einer der beiden nahm auf seinem iPhone ohne Pilnaceks Wissen Teile des mehrstündigen Gesprächs auf. Etwas mehr als zehn Minuten liegen dem ORF vor, darin kritisiert Pilnacek die ÖVP scharf, spricht von Interventionsversuchen bei ihm und verneint, jemals im Interesse der Partei interveniert zu haben.

Pilnacek-Tonband belastet ÖVP

Der verstorbene Justizsektionschef Christian Pilnacek soll im Sommer 2023 von Wünschen der ÖVP erzählt haben, „Ermittlungen abzudrehen“. Namentlich nennt Pilnacek Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (ÖVP).

„Wieso dreh ich das nicht ab?“

Von Pilnacek geschildert wurden etwa Vorgänge am 27. November 2013, als Ermittler der Staatsanwaltschaft Wien zur Hausdurchsuchung in die ÖVP-Zentrale kamen. Es ging um einen Nebenstrang der Telekom-Causa, um ÖVP-nahe Werbeagenturen. Pilnacek erinnerte sich: „Das war die Telekom-Geschichte. Wo man schon eine Hausdurchsuchung bei der ÖVP-Zentrale gemacht hat, wo die immer zu mir kommen und sagen: Wieso dreh ich das nicht ab? Hab ich gesagt: Ich kann es nicht. Ich mach es nicht. Ich kann es nicht. Ich will es nicht.“

Pilnacek, dem in der Vergangenheit wiederholt vorgeworfen wurde, Verfahren zu beeinflussen, stellte das gegenüber seinen Bekannten in Abrede. Es sei vielmehr die ÖVP gewesen, die versucht habe, Einfluss zu nehmen: „Ich finde es ja auch grundsätzlich eben verschwörungstheoretisch, dass Leute mir unterstellen, ich hätte für die ÖVP Verfahren beeinflusst. Ich (habe) kein einziges Verfahren beeinflusst, die ÖVP hat mir das zum persönlichen Vorwurf gemacht. Die sind zu mir gekommen, haben gesagt: Ja, du lasst all deine ganzen Staatsanwälte … lasst gegen uns arbeiten.“

„Du hast selber versagt, du hast es nie abgedreht“

Namentlich nannte Pilnacek auf dem Tonmitschnitt einige prominente Personen der ÖVP, etwa Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka. Auch er habe bei ihm interveniert, wie Pilnacek sagte: „Und in jedem Gespräch sagt der Sobotka: ‚Du hast selber versagt, du hast es nie abgedreht‘“, so Pilnacek.

Wolfgang Sobotka (ÖFB)
APA/Roland Schlager
Laut den Angaben auf dem Tondokument soll Sobotka bei Pilnacek interveniert haben

Sobotka-Sprecher: „Absoluter Tiefpunkt“

Damit konfrontiert, sagte ein Sprecher Sobotkas: „Wenn ein erst kürzlich, unter tragischen Umständen verstorbener Mensch nun in die Öffentlichkeit gezerrt werden soll, um politisches Kleingeld zu schlagen, dann werden wir uns an einem solch pietätlosen Akt nicht beteiligen. Das rücksichtslose Instrumentalisieren eines Menschen, der sich heute nicht mehr erklären kann, ist ein absoluter Tiefpunkt der politischen Kultur in unserem Land.“

Und weiter: Sobotka habe „niemals mit Christian Pilnacek zu laufenden Verfahren, Ermittlungen oder Sicherstellungsanordnungen gesprochen“. „Es bleibt dementsprechend natürlich bei dem, was er im Untersuchungsausschuss unter Wahrheitspflicht gesagt hat. Auch der Verstorbene selbst hat das im Untersuchungsausschuss und unter Wahrheitspflicht bestätigt.“

Vor dem Untersuchungsausschuss 2020 wurde Pilnacek unter Wahrheitspflicht konkret gefragt, ob es im Telekom- oder im CASAG-Verfahren Interventionen gab: „Ich kann sicher nicht jedes Gespräch ausschließen, aber es gab sicher keine Interventionen oder verfahrensbezogene Gespräche“, gab der Jurist damals an.

„Frau Ministerin, ich kann nichts tun“

Pilnacek berichtete auch – so geht es aus den Aufnahmen hervor – , dass die damalige Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) – sie war zwischen 2011 und 2013 im Amt – unter Druck gesetzt worden sei, Ermittlungen gegen die ÖVP einzustellen.

„Damals wie das Telekom-Verfahren war, musste sich die Karl im Parteivorstand rechtfertigen, und davor ist sie mit mir eine Stunde gesessen, und ich hab gesagt: ’Frau Ministerin, ich kann nichts tun." Ich mache auch nichts. Das wär alles rechtswidrig. Mache ich nicht. Kann ich nicht leisten.’ Und sie ist dann massiv angegriffen worden, hat ihre Ämter dann verloren, weil’s ihr das vorgeworfen haben, dass sie ihren Sektionschef nicht dazu bringt, in diese Verfahren zu intervenieren.“

Auch Ex-Ministerin Karl sagte gegenüber dem ORF in einer Reaktion auf Pilnaceks Behauptungen in dem Tonmitschnitt: „Ich kommentiere illegal aufgenommene Aussagen eines Verstorbenen nicht.“

„Wenn der Pilnacek auspackt, haben wir ein Problem“

In dem mitgeschnittenen Gespräch sah sich Pilnacek aber offenbar auch in einer Situation, in der er viel wisse, aber seine Geheimnisse nicht weitertrage. „Der Kloibmüller sagt immer, wenn der Pilnacek auspackt, haben wir ein Problem.“ Aber er sagte auch: „Ich bin kein Racheengel.“ Michael Kloibmüller war viele Jahre Kabinettschef im Innenministerium.

Vom ORF mit den Aussagen von Pilnacek in dem Tondokument konfrontiert, wollte Kloibmüller keine Stellungnahme dazu abgeben: „Schon alleine aus Gründen der Pietät zu einer rechtswidrigen Tonbandaufnahme eines verstorbenen und überdies von mir sehr geschätzten Menschen.“

ÖVP ortet „KGB-Methoden“

„Der Wahlkampf wirft bereits seine Schatten voraus“, reagierte auch die ÖVP-Bundespartei in einer Aussendung am Dienstag. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker sagte, er sei „sprachlos“, dass die Aufnahmen öffentlich werden. „Mittels eines Tonbands wird nun sogar das Andenken an einen Toten missbraucht und instrumentalisiert.“

ÖVP-Generalsekretär Stocker zu Pilnacek-Vorwürfen

ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker ortet hinsichtlich der Pilnacek-Aufnahme einen Niedergang der politischen Kultur, wenn das Andenken an einen Toten missbraucht und instrumentalisiert werde.

Die Hintergründe zu dem Tonband und „den Methoden, die an den russischen Geheimdienst erinnern“, müssten aufgeklärt werden, forderte Stocker in der Aussendung. „Wer es aufgezeichnet hat, was das Motiv ist, wer hinter diesen KGB-Methoden steckt.“

Falsche Vorwürfe gegen die Volkspartei seien nichts Neues. „Klar ist aber: Nie hat sich etwas bewahrheitet. Ganz im Gegenteil: Regelmäßig zerplatzen Vorwürfe gegen Vertreter der Volkspartei wie eine Seifenblase. Außer falschen Vorverurteilungen bleibt nichts übrig“, so Stocker.

Stocker: Pilnacek in „Falle gelockt“

Bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz Dienstagabend bekräftigte Stocker, dass Pilnacek wohl in eine „Falle gelockt“ worden sei. Gefragt, wie er sich die Widersprüche in Pilnaceks Aussagen erkläre, sagte Stocker: „Zum Inhalt dieses Tonbands werde ich mich nicht äußern“, sei es doch unter „dubiosen“ Umständen entstanden. Die Verantwortlichen vermutet Stocker jedenfalls in der Opposition: „Von wo kommt’s denn her, wenn nicht von der Opposition?“

Auf Journalistenanfrage machte Stocker außerdem klar, dass die ÖVP hinter Nationalratspräsident Sobotka steht, ein Rücktritt steht für ihn also nicht im Raum. Vom grünen Koalitionspartner lag bis zum Abend keine Stellungnahme vor.

Nehammer: „Sobotka hat mein Vertrauen“

„Sobotka hat mein Vertrauen“, meinte auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Mittwoch nach dem Ministerrat. Auch er sprach von einem „Tiefpunkt der politischen Auseinandersetzung“, das sei moralisch nicht vertretbar. Er finde es „persönlich mehr als pietätlos, was hier gerade passiert“. Um Politik zu machen, werde die Totenruhe gestört. Pilnacek könne sich nicht mehr dazu äußern. Nehammer wolle sich daher nicht an dieser Diskussion beteiligen.

NEOS legen Sobotka Rücktritt nahe

NEOS-Generalsekretär Douglas Hoyos hatte zuvor Sobotka den Rücktritt nahegelegt: „Mit Blick auf die genannten Personen halten wir fest: Wer dem Hohen Haus der Demokratie vorsteht, muss über jeden Verdacht erhaben sein.“ Pilnaceks Aussagen legten ein System nahe, das eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig ist, schrieb Hoyos in einer Aussendung.

„Schockierend, aber leider nicht überraschend“ kommen die Aussagen Pilnaceks für die SPÖ. Die „Enthüllungen“ bestätigen für Finanzsprecher Jan Krainer, „was wir in zwei Untersuchungsausschüssen über den organisierten Machtmissbrauch des Systems ÖVP erfahren haben. Diese ÖVP ist immer noch die Kurz-ÖVP“, schrieb er in einer Aussendung.

Grüne: „Gift für Demokratie“

Der grüne Koalitionspartner reagierte behutsam. „Was das Tonband wieder einmal aufbringt, ist, dass es früher offensichtlich ein Problem gegeben hat“, meinte deren Generalsekretärin Olga Voglauer in einer schriftlichen Stellungnahme – „dass es immer wieder die Versuche gegeben hat, dass man Einfluss auf die Justiz nimmt“. Das gehe, wie das auch in der Aufnahme angedeutet werde, mindestens ein Jahrzehnt zurück. „Das ist nichts Neues“, so Voglauer, aber: „Allein der Eindruck, dass das so gewesen sein könnte, ist Gift für eine Demokratie.“

Die Frage nach Sobotka hätten die Grünen bereits vor einiger Zeit und beim Aufkommen verschiedenster Skandale rund um dessen Person beantwortet, meinte Voglauer außerdem. „Ich an seiner Stelle, und das haben in der Vergangenheit bereits verschiedene hochrangige Grüne gesagt, hätte sogar früher, schon längst den Hut genommen, um das Ansehen dieses hohen Amtes zu schützen.“ Jetzt gehe es um Aufklärung.

Politologe Filzmaier zu Pilnacek-Aufnahmen

Politologe Peter Filzmaier analysiert die nun veröffentlichten Aufnahmen und die Reaktion der ÖVP darauf.

Gesamtaufnahme offenbar länger

Die gesamte dem ORF vorliegende Aufnahme ist zehneinhalb Minuten lang. Das gesamte Tape soll länger sein, nur ein Teil davon wurde dem ORF und der „Kronen Zeitung“ übergeben. Der ORF hat den vorliegenden Teil der Aufnahme von unabhängigen Sachverständigen überprüfen lassen. Ein Gutachten eines Audioforensikers fand keine Auffälligkeiten, die auf eine Veränderung des Clips hindeuten, und bestätigte auch, dass er aus einem längeren Clip herausgeschnitten sein dürfte.

Stimme in Labor für Spracherkennung untersucht

Auch bestätigte das Gutachten, dass das Gespräch mit einem iPhone am 28. Juli aufgenommen worden sein dürfte. Ein weiteres Gutachten, durchgeführt vom langjährigen Leiter des Labors für Spracherkennung im Bundeskriminalamt im deutschen Wiesbaden, hat die Stimme des Sprechers auf der Aufnahme mit Archivmaterial von Pilnacek verglichen und kam zu dem Schluss, dass zwischen den beiden „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Personenidentität“ bestehe.

Mächtiger Akteur im Justizministerium

Über lange Jahre galt Pilnacek neben dem jeweiligen Minister als mächtigster Mann im Justizministerium. Unter der ÖVP-FPÖ-Koalition avancierte er zum Generalsekretär. Er war stets als hervorragender Jurist im Ministerium bekannt, schreckte aber auch vor Konflikten nicht zurück. Mit dem mittlerweile legendären Satz „Setzts euch z’samm und daschlogts es, aber das hättet ihr vor drei Jahren machen können“ hatte er etwa Anklagevertreter aufgefordert, in der Eurofighter-Causa jene Ermittlungsstränge einzustellen, die keinen Erfolg versprechen.

Im Zuge von Ermittlungen rund um das Heumarkt-Projekt in der Wiener Innenstadt wurde Pilnacek von der Staatsanwaltschaft Innsbruck das Handy abgenommen. Der Vorwurf damals: Er soll interne Informationen aus der Behörde verraten haben. Wegen seines Todes wurde das Verfahren mittlerweile eingestellt. In einem anderen Verfahren wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses wurde er rechtskräftig freigesprochen.

Suspendierung vor Gericht bekämpft

Die diversen Vorwürfe führten zur Suspendierung Pilnaceks, die dieser vor Gericht bekämpfte. Zuletzt verhängte die Disziplinarbehörde eine (nicht rechtskräftige) Geldstrafe gegen ihn, weil er in einem Chat mit dem damaligen Kabinettschef im Finanzministerium, Thomas Schmid, diesem zu einem Rechtsmittel gegen eine Hausdurchsuchung geraten hatte. In diesem Zusammenhang fiel auch die auf Ex-Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) gemünzte Aussage „Wer vorbereitet Gernot auf seine Vernehmung?“.

In der Nacht auf den 20. Oktober wurde Pilnacek tot aufgefunden, eine Obduktion wurde angeordnet – das Ergebnis steht noch aus.