Zusätzlich zu 13 israelischen Frauen und Kindern – und über die Vereinbarung hinausgehend – wurden auch zehn thailändische und eine philippinische Geisel freigelassen. Das Rote Kreuz bestätigte Stunden, nachdem der Geisel- und Gefangenenaustausch in Gang gesetzt worden war, die Übergabe von 24 Geiseln in Gaza und 39 palästinensischen Häftlingen in Israel.
Die Geiseln wurden vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zum Grenzübergang Rafah zwischen dem südlichen Gazastreifen und Ägypten gebracht. Israelische Sicherheitskräfte nahmen sie auf ägyptischem Boden in Empfang. Mittlerweile befinden sich alle freigelassenen Geiseln in Israel. Sie würden dort medizinisch untersucht, teilten die israelische Armee und der Inlandsgeheimdienst Schin Bet am Freitagabend mit.
Sie sollten dann in israelische Krankenhäuser gebracht werden und dort ihre Angehörigen treffen, hieß es weiter. Dort warten bereits die Familien auf die Geretteten. Die Frauen werden – soweit es der physische und psychische Zustand erlaubt – vom Geheimdienst befragt. Rund zwei Tage sollen sich die Frauen und Kinder, die nach den Erfahrungen der letzten Wochen wohl schwer traumatisiert sind, in den Spitälern aufhalten.
Bei den Thailändern handelt es sich um Gastarbeiter, die in den von der Hamas angegriffenen Kibbuzim am 7. Oktober vor allem in der Landwirtschaft arbeiteten. In den nächsten Tagen sollen in weiteren Schritten insgesamt rund 50 Geiseln freikommen. In seiner Rolle als „neutraler Vermittler“ werde das IKRK „über mehrere Tage hinweg in Gaza festgehaltene Geiseln an die israelischen Behörden und letztendlich an ihre Familien übergeben und palästinensische Häftlinge an die Behörden im Westjordanland überstellen“, hieß es in einer IKRK-Erklärung.
Angehörige bangen von Tag zu Tag
Parallel erhält Israel die Liste der Geiseln, die am Samstag freikommen sollen. Die Angehörigen sollen dann im Lauf des Nachmittags schnellstmöglich informiert werden. Für die Angehörigen aller Geiseln ist der Beginn der Vereinbarung ein Ereignis, dem viele mit gemischten Gefühlen entgegensehen.
Denn die meisten müssen weiter um ihre Lieben bangen, und viele von ihnen werden auch in den folgenden Tagen Tag für Tag enttäuscht werden, wenn sich die Namen ihrer Familienangehörigen nicht auf der Liste befinden werden. Einige der Angehörigen sagten aber am Freitag in Interviews, dass sie auch die Teilfreilassung begrüßen, auch wenn ihre Kinder, Eltern oder Großeltern nicht freikämen. Man sei im gemeinsamen Leid in den letzten Wochen zu einer großen Familie zusammengewachsen, so der Tenor der Interviewten.
Der Bruder eines Entführten schilderte, dass er und seine Familie nun den zweijährigen Sohn seines Bruders versorgen. Die Mutter des kleinen Buben wurde von der Hamas beim Tanzfestival ermordet. Der Zweijährige suche immer wieder seine Eltern und wolle nach Hause.
Ganz bei den Angehörigen
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant verfolgen die Geiselfreilassung von einem Kontrollraum im Tel Aviver Regierungsviertel. Der Oppositionspolitiker Benni Ganz, der nach dem 7. Oktober dem Kriegskabinett beitrat, dagegen kam zum Zentrum, das die Angehörigen der Entführten eingerichtet haben, um dort mit den Familien zu sprechen.
Das Militär rief die Öffentlichkeit und die Medien zu Geduld und Sensibilität auf. „Wir bitten alle darum, die Privatsphäre der freigelassenen Geiseln und ihrer Familien zu respektieren.“
39 palästinensische Häftlinge entlassen
Für jede israelische Geisel wurden im Gegenzug drei palästinensische Häftlinge entlassen – 24 weibliche und 15 minderjährige männliche Gefängnisinsassen. Sie wurden zu ihren Familien in Ostjerusalem bzw. im Westjordanland gebracht.
Pressekonferenz an Grenze sorgt für Empörung
Ausgerechnet während der Freilassung der ersten Geiseln aus den Händen der Hamas hielten der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez und sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo am Grenzübergang Rafah eine Pressekonferenz ab. Sanchez übte dabei scharfe Kritik an Israel und sagte, die „wahllose Tötung von Zivilisten, darunter von Tausenden Burschen und Mädchen“, sei „völlig inakzeptabel“. Israel reagierte empört und zitierte umgehend die Botschafter der beiden Länder ins Außenministerium.
Sisi mit Vorstoß für politische Lösung
Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi ließ am Freitag mit einem Vorstoß für eine künftige politische Lösung aufhorchen: Er könne sich einen demilitarisierten palästinensischen Staat vorstellen mit einer zeitlich befristeten internationalen Präsenz, um den Sicherheitsinteressen Israels wie eines Staates Palästina zu entsprechen. Sisi plädierte für Sicherheitsgarantien etwa der NATO und arabischer Staaten. Ein palästinensischer Staat müsse in den Grenzen von 1967 entstehen, mit Ostjerusalem als Hauptstadt.
Der israelische Verteidigungsminister Galant wiederum kündigte an, dass sofort nach Ende des Geisel- und Gefangenenaustauschs und Ablauf der diesbezüglichen Waffenruhe der Krieg in Gaza mit unverminderter Härte wiederaufgenommen werde.
Mehr Hilfslieferungen für Gaza
Ebenfalls Teil der Vereinbarung ist die Ausweitung der Hilfslieferungen, die bereits Freitagfrüh begann. Ägypten kündigte an, täglich 130.000 Liter Diesel und vier Lkw-Ladungen mit Gasflaschen in den Gazastreifen zu liefern, sollte die Waffenruhe halten. Täglich könnten rund 200 Lkws humanitäre Hilfe über Rafah in das Palästinensergebiet bringen, hieß es. Das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) will die Kampfpause nutzen, um dringend benötigte Hilfsgüter zu verteilen.
Die Kämpfe dauerten bis zuletzt an. Im israelischen Grenzgebiet gab es noch kurz vor und auch nach Beginn der Waffenruhe Raketenalarm. Die Armee hatte zuvor die Angriffe im Gazastreifen noch intensiviert.
Israels Armee: Tunnel unter Al-Schifa-Spital zerstört
Nach eigenen Angaben zerstörte die israelische Armee am Freitag einen unterirdischen Tunnelkomplex im Bereich des Al-Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt. Nach Darstellung der israelischen Armee hatte die Hamas den Tunnelkomplex für Terrorzwecke missbraucht – die Hamas bestreitet das. Laut israelischen Medienberichten hatte die Hamas als eine der Bedingungen für den Geiseldeal in letzter Minute den Rückzug der Armee aus dem Al-Schifa-Spital gefordert. Daher habe die Armee die Tunnel zerstört.
Israelische Armee warnt: Nicht nach Nordgaza gehen
Augenzeugenberichten zufolge machten sich nach Beginn der Feuerpause Hunderte palästinensische Binnenflüchtlinge auf den Weg, um in ihre Wohnorte zurückzukehren. Das israelische Militär warnte jedoch davor und betonte in einer Mitteilung auf Arabisch, dass weiter Krieg herrsche. Laut palästinensischen Angaben sollen zwei Zivilisten beim Versuch, in den Norden zurückzukehren, von der Armee getötet worden sein.