– AFP PICTURES OF THE YEAR 2023 –

A Ukrainian serviceman of the State Border Guard Service works in a position in Bakhmut on February 9, 2023, amid the Russian invasion of Ukraine. (Photo by YASUYOSHI CHIBA / AFP) / AFP PICTURES OF THE YEAR 2023
APA/AFP/Afp)/Yasuyoshi Chiba
Ukraine-Krieg

Russlands Spiel auf Zeit

Die ukrainische Gegenoffensive hat Kiew nicht den erhofften Durchbruch gebracht. Im Süden kann die Ukraine Erfolge verbuchen, im Osten sehen sich die Streitkräfte mit einer russischen Offensive bei Awdijiwka konfrontiert. Russland setze auf einen langen Krieg, sagt der Sicherheitsanalyst Gustav Gressel gegenüber ORF.at. Während die westliche Militärhilfe bröckle, habe Russland seine Rüstungsproduktion hochgefahren. Friedensgespräche hält er aktuell für „völlig illusorisch“.

Die russische Strategie sei seit dem Frühjahr 2022 unverändert, so Gressel, Osteuropa-Spezialist der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Damals wurde Moskau klar, dass ein schneller Sieg über die Ukraine nicht möglich ist. Seither versuche Russland, das überfallene Nachbarland in einem „Erdrückungskrieg“ zu ermatten.

Fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn hat Russland seine Rüstungsproduktion deutlich ausgeweitet. Im kürzlich verabschiedeten Budget für die Jahre 2024 bis 2026 ist ein Drittel der Finanzmittel für die „Landesverteidigung“ veranschlagt. Insgesamt will die russische Regierung in den nächsten Jahren umgerechnet über 110 Milliarden Euro für diesen Sektor ausgeben. Erstmals in der Geschichte des modernen Russlands sei im Staatshaushalt mehr Geld für das Militär als für Sozialausgaben vorgesehen, berichtete die russische Nachrichtenwebsite Meduza.

der Kreml in Moskau
IMAGO/TASS/Mikhail Metzel
Kreml in Moskau: Russland erhöht seine Ausgaben für das Militär deutlich

Russische Armee minimiert Verluste

Die russische Rüstungsindustrie produziert laut Gressel jährlich 250 Kampf- und 350 Schützenpanzer. Hinzu kämen pro Jahr jeweils 1.000 Kampf- und 1.000 Schützenpanzer aus den Depots, die wieder kampftauglich gemacht werden könnten.

Russland verfügt über enorme Waffenbestände aus der Zeit des Kalten Krieges. Tausende Panzer, Militärfahrzeuge und Artilleriesysteme lagern seit Jahrzehnten unter freiem Himmel, viele davon sind bestenfalls als Ersatzteillager verwendbar. „Aber wenn man sich anschaut, was auf russischer Seite für reparaturwürdig erachtet wird, dann haben sie Materialreserven, um den Krieg bis 2027 fortzuführen“, so der Militärexperte. Zum Vergleich: Die Ukraine erhielt vor ihrer Gegenoffensive im Sommer etwa 300 Panzer aus NATO-Staaten.

Ukrainische Soldaten in Zaporizhzhia
Reuters
Für ihre Gegenoffensive erhielt die Ukraine Militärgerät aus NATO-Staaten

Derzeit toben in der Ostukraine schwere Kämpfe um die Stadt Awdijiwka, wo russische Truppen in die Offensive gingen. Auch bei Bachmut setzten russische Einheiten zum Angriff an. Die Verluste an Soldaten und Material sind nach Ansicht westlicher Militärfachleute enorm. Über das Jahr gesehen hätten die russische Armee heuer aber weit weniger Verluste als im Vorjahr verzeichnet, so Gressel.

Allerdings habe es 2022 einen „Bewegungskrieg“ gegeben. Die zurückgeschlagenen Angriffe auf Kiew und Sumy sowie die erfolgreichen ukrainischen Offensiven in Cherson und Charkiw hätten Russlands Armee enorme Materialverluste gebracht – „das konnte heuer vermieden werden“, so Gressel. Nach Angaben der Rechercheplattform Oryx, die öffentlich verfügbare Daten, Bilder und Videos auswertet, hat Russland seit Beginn der Invasion über 2.500 Kampf- und Schützenpanzer verloren. Auf ukrainischer Seite waren es mehr als 690.

Westliche Militärhilfe schwindet

Zum russischen Kalkül gehört laut Gressel auch die zunehmend stockende Militärhilfe des Westens für Kiew. Der Puffer an tauglichem sowjetischem Militärgerät werde in den östlichen NATO-Mitgliedsstaaten heuer aufgebraucht. In den Arsenalen der westlichen Mitglieder des Verteidigungsbündnisses gehen die Bestände an Waffen aus dem Kalten Krieg nach Gressels Einschätzung im ersten Halbjahr 2024 zur Neige.

Nach dieser Zeit könne die Ukraine im Grunde genommen nur noch aus bestehenden Beständen der Armeen beziehungsweise aus der Neuproduktion versorgt werden. So könne etwa ein Schützenpanzer des Typs Marder aus einem deutschen Bataillon entnommen und kommendes Jahr gegen einen modernen Puma-Schützenpanzer ersetzt werden.

US-Kampfpanzer M1A2 Abrams
IMAGO/NurPhoto/Artur Widak
Abrams-Panzer: Die angekündigte Lieferung an die Ukraine verzögerte sich um neun Monate

Um so einen Tausch möglich zu machen, hätte Europa allerdings rechtzeitig Kriegsgerät bestellen und in entsprechend großer Zahl ordern müssen, so Gressel. Die Produktion eines Schützenpanzers dauere in etwa 18 Monate, bei einem Kampfpanzer seien es drei Jahre. Da das nicht passiert sei, werde das „Loch“ nun immer größer: „Hätten wir zu Beginn des Krieges ein großangelegtes Programm zur Ankurbelung unserer Rüstungsindustrie in Gang gesetzt, hätten wir jetzt das Gerät, um umzuschichten.“

Die Ukraine habe es „mehr oder weniger aufgegeben, auf den Westen zu warten“, sagte Gressel. „Sie wissen: Wenn sie das Gerät nicht selbst produzieren, kommt es nicht“, so der Experte. Die Erzeugung eigener Drohnen wurde zuletzt stark gesteigert. Seit der russischen Invasion stieg die Produktion laut Angaben aus Kiew um das Hundertfache.

Sanktionen „werfen Russland nicht aus Krieg“

Die USA haben Kiew seit Beginn der russischen Invasion mit Militärhilfe in Milliardenhöhe unterstützt. Allerdings plagen die US-Rüstungsindustrie Probleme. Bereits vor fünf Jahren ortete eine vom Weißen Haus beauftragte Untersuchung Defizite an der industriellen Basis, etwa einen Mangel an Fachkräften und eine große Abhängigkeit von billigen, im Ausland gefertigten Teilen.

Der Befund des Berichts habe sich Gressel zufolge bestätigt. Die groß angekündigte Lieferung von 30 US-Abrams-Panzern verzögerte sich um Monate. Statt wie geplant im Jänner kamen sie im September. Daneben tun sich für Kiew politische Probleme auf. Die US-Republikaner stehen weiteren Hilfen skeptisch gegenüber. Kommendes Jahr findet die Präsidentschaftswahl statt. Sollte sich Donald Trump als republikanischer Kandidat durchsetzen und dann auch gewählt werden, könnte dies das Ende der Unterstützung aus Washington bedeuten.

Russlands Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik
Russlands Präsident Putin: Die westlichen Sanktionen können Moskaus Kriegsführung nicht unterbinden

Die von den westlichen Industrienationen verhängten Sanktionen gegen die russische Rüstungsindustrie „wirken in einigen Bereichen verzögernd und erschwerend“, so Gressel, „aber alleine werfen sie Russland nicht aus dem Krieg oder verunmöglichen diesen.“ Auf russischer Seite habe sich zudem gezeigt, dass mit optischen und Feuerleitsystemen und Funkgeräten modernisiertes Altgerät „den Zweck erfüllt und neue Systeme eigentlich zu teuer sind“.

Friedensverhandlungen „völlig illusorisch“

Bei der ukrainischen Gegenoffensive ist der große Durchbruch für Kiews Truppen ausgeblieben. Nun hat der Winter begonnen, Präsident Wolodymyr Selenskyj wies die Bevölkerung bereits auf die schwierige Lage der Soldaten an der Front hin. In Europa werden angesichts der Situation Rufe nach Verhandlungen lauter. Zuletzt erklärte der Außenminister der neuen russlandfreundlichen slowakischen Regierung, Juraj Blanar, es brauche „Druck für Friedensgespräche“.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte unlängst bekräftigt, sein Land habe Friedensgesprächen mit der Ukraine „nie eine Absage erteilt“. Dass Moskau dafür tatsächlich offen wäre, glaubt man in Kiew nicht. Die USA zeigen sich ebenfalls skeptisch.

der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj
AP/Ukrainian Presidential Press Office
Ukrainischer Präsident Selenskyj: Keine geheimen Gespräche über Verhandlungen mit Russland

US-Medien hatten jüngst berichtet, dass Washington und Brüssel im Geheimen begonnen haben sollen, mit der Ukraine über mögliche Friedensverhandlungen mit Russland zu sprechen. Neben den USA wiesen auch die EU und Selenskyj die Angaben zurück.

Sicherheitsanalyst Gressel bewertet Friedensgespräche aktuell als „völlig illusorisch“. Putin habe enorme finanzielle und persönliche Investitionen in den Krieg getätigt. Moskaus „Kriegsziele“ hätten sich seit Beginn des Überfalls nicht geändert, so Gressel: „Es geht um eine totale Unterwerfung der Ukraine.“