Der Israeli Avihai Brodetz umarmt seine Kinder Ofri, Yuval und Oria
APA/AFP/Spokesperson’s Office/Schneider Children Medical Center
Hamas vs. Israel

Erste Details über Geiselhaft in Gaza

Nach der Freilassung von mehr als 50 der etwa 240 von der Hamas aus Israel entführten Menschen gelangen nun erste Details an die Öffentlichkeit, nämlich wie die Geiseln von ihren Entführern versorgt und manipuliert werden. Viele der Befreiten erfahren erst jetzt das Ausmaß des Überfalls der Hamas am 7. Oktober. Einer Geisel gelang vorübergehend die Flucht. Und die Terrororganisation nützt die Freilassungen auch zur psychologischen Kriegsführung.

Die 58 bisher Freigelassenen befinden sich großteils noch im Spital und werden von der Öffentlichkeit abgeschirmt – um Zeit für die Familie zu haben und sich schrittweise in die veränderte Realität wieder einzufinden. Viele von ihnen haben erst mit der Rückkehr aus der rund 50-tägigen Geiselhaft vom gesamten Ausmaß des Hamas-Überfalls erfahren: So wussten etwa Ruti Munder (78), ihre 55-jährige Tochter Keren und ihr Enkel Ohad (9) bis zu ihrer Rückkehr nicht, dass Kerens Bruder am 7. Oktober von der Hamas ermordet und sein Haus im Kibbutz Nir Os völlig zerstört wurde. Die drei hatten zudem angenommen, Rutis Mann Avraham sei ermordet worden. Doch Avraham Munder, der am Stock geht und schlecht sieht, wurde von einer anderen Gruppe von Terroristen entführt und befindet sich noch in Geiselhaft.

Die Munder-Familie hatte fast 60 Jahre in Nir Os gelebt. Keren und ihr ermordeter 50-jähriger Bruder Roi wuchsen dort auf. „Wir mussten Tante Ruti sagen, dass sie nicht nach Nir Os zurückkehren kann. Es wird mindestens zwei Jahre dauern, um es wiederaufzubauen“, so Raviv. Ohad hatte in der Geiselhaft seinen neunten Geburtstag.

„Sie wusste gar nichts“

Keren Munder erzählte ihrer Cousine Merav Raviv zufolge, sie habe damit gerechnet, dass die Befreiung viel länger dauern würde. Sie wusste demnach weder etwas über die Bodenoffensive noch über die Massenbewegung in Israel, die weltweit für die Freilassung der Geiseln mobilisiert. „Sie wussten gar nichts. Sie wussten nicht, dass sie berühmt sind“, so Raviv. Andere Geiseln konnten israelischen Medienberichten zufolge teilweise Radio hören.

Die freigelassene israelische Geisel Ohad Munder
AP/IDF
Ohad Munder wurde in der Geiselhaft neun Jahre alt

Schlafen auf Plastiksesseln

Die Munders und andere Zurückgekehrte erzählten ihren Angehörigen von den Bedingungen. Um die vielen noch in Gaza befindlichen Geiseln nicht zu gefährden, dürfen ihre Angehörigen in der Öffentlichkeit keine für deren Sicherheit relevanten Details erzählen. Sie schliefen aber offenbar auf Reihen von Plastiksesseln, in einem Raum, der wie ein Wartebereich aussah. Und sie hätten oft Stunden warten müssen, um aufs WC gehen zu können.

Unterernährt und schlechte Gesundheitswerte

Laut den Ärzten des Spitals Wolfson, in dem viele der Befreiten erstversorgt werden, leidet das Gros der freigelassenen Geiseln an Unterernährung und hat insgesamt schlechte Gesundheitswerte. „Die Hauptnahrung in der Haft waren Reis, Hummus und Fladenbrot“, so der zuständige Arzt, Doron Menachemi. „Einige von ihnen haben chronische Krankheiten, die eine regelmäßige medikamentöse Behandlung erfordern, die sie nicht erhalten haben.“ Sie hätten sich aber rasch erholt, und es bestehe keine Lebensgefahr mehr, so Menachemi laut der Nachrichtenwebsite Walla.

20 Kilo abgenommen

Der stellvertretende Leiter des Spitals, Amir Nutman, warnte, dass für die noch in Gaza festgehaltenen Geiseln ohne die nötige medikamentöse Versorgung und ohne entsprechende Ernährung Lebensgefahr bestehen könne. Neben Reis, Hummus und Fladen hätten manche auch Eier bekommen. Eine der Befreiten habe erzählt, dass sie selbst für ihre Gruppe gekocht habe. Einige verloren stark an Gewicht, eine sogar 20 Kilo, eine zweite zwölf Kilo. Mehrere der Zurückgekehrten konnten schon aus den beiden Spitälern entlassen werden. Sie befinden sich im Kreis ihrer Familie bzw. in Hotels – etwa am Toten Meer und in Eilat, in denen die Überlebenden des 7. Oktober derzeit untergebracht sind.

Die freigelassene israelische Geisel Ruth Munder
AP/IDF
Ruth Munder und dahinter ihre Tochter Keren bei ihrer Rückkehr nach Israel

Geisel gelang vorübergehend Flucht

Der 25-jährige Roni Kriboi, der beim Tanzfestival von der Hamas entführt worden war, erzählte nach der Freilassung seiner Familie, ihm sei in Gaza die Flucht gelungen. Laut seiner Tante Ilana Magid entkam er, als das Gebäude, in dem er gefangengehalten wurde, durch israelische Luftschläge getroffen wurde. Kriboi schlug sich vier Tage in Gaza durch, sei dann aber von Palästinensern gefasst und der Hamas übergeben worden, so Magid gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Kan. Kriboi wurde als bisher einziger Mann freigelassen. Er besitzt auch einen russischen Pass, und die Hamas wollte sich damit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber offenbar erkenntlich zeigen.

Eine der Freigelassenen, die 72-jährige Adina Mosche vom Kibbutz Nir Os, erzählte ihrer Familie, ihre Gruppe sei vor der Übergabe aus einem Tunnel, in dem sie gefangengehalten wurden, hinausgeführt worden. Sie hätten gefürchtet, dass sie hingerichtet werden. Bevor sie dann in das Fahrzeug des Roten Kreuzes einstieg, habe sie einen Hamas-Kämpfer aufgefordert, statt ihr eine andere Frau, deren Gesundheitszustand schlechter war, freizulassen. Gesundheitsminister Uriel Boso, der Mosche am Wochenende besuchte, würdigte das als „Ausdruck des Heldentums“, das viele der von der Hamas-Überfallenen gezeigt hätten.