Wiedersehensfreude nach Entlassung palestinensischer Häftlinge
Reuters/Ammar Awad
Palästinenser enthaftet

Freilassung legt Wunden offen

Im Austausch gegen Geiseln der Hamas hat Israel während der am Freitag beendeten Feuerpause palästinensische Gefangene freigelassen, etwa im Verhältnis eins zu drei. Für 105 in den Gazastreifen verschleppte Geiseln kamen an die 300 palästinensische Häftlinge frei. Manche von ihnen, auch Minderjährige, berichten von Misshandlungen in israelischen Gefängnissen nach dem 7. Oktober. Am Samstag gab die Hamas bekannt, über die Freilassung weiterer Geiseln erst nach Ende des Gaza-Krieges weiterverhandeln zu wollen.

Auf der Website der israelischen Regierung ist eine Liste mit den Namen Hunderter Inhaftierter veröffentlicht, die zur Freilassung infrage kamen oder kommen. Vereinzelt sind es Frauen, großteils aber männliche Jugendliche oder junge Männer. Ausnehmend schwere Straftaten werden den meisten nicht zur Last gelegt, der Vorwurf lautet in vielen Fällen „Beeinträchtigung der Sicherheit des Gebiets“, wie das ZDF berichtete. Darunter fällt etwa das Werfen von Steinen auf israelische Soldaten. Die meisten der Inhaftierten wurden noch nicht verurteilt.

Unter den bisher Freigelassenen befindet sich aber auch die bekannte palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi. Die 22-Jährige war wegen eines Beitrags auf Instagram festgenommen worden, der nach Angaben israelischer Quellen zum Massaker an Israelis aufrief und auf Hitler anspielte. Ihre Familie bestreitet, dass sie diesen Beitrag geschrieben habe, ihr Konto sei gehackt worden.

Gefürchtete Administrativhaft

Tamimi hätte beinahe die Administrativhaft gedroht. Diese heftig umstrittene Praxis erlaubt es Israel, Verdächtige ohne Anklage und Urteil auf unbestimmte Zeit einzusperren. Personen können so aufgrund von politischen Aktivitäten, darunter auch Redebeiträge und gewaltfreie Proteste, eingesperrt werden. Die Inhaftierten wissen in der Regel nicht, was gegen sie vorliegt.

Dei palestinensische Aktivistin Ahed Tamimi nach ihrer Enthaftung
Reuters/Ammar Awad
Ahed Tamimi kam in der Nacht auf Donnerstag frei, ihre Familie steht schon lange im Fokus der israelischen Sicherheitsbehörden

Für einige Palästinenser und Palästinenserinnen, die unter militärischer Besatzung im Westjordanland leben, sind die freigelassenen Gefangenen ein Symbol für die Durchsetzungskraft der Hamas und ihre Bereitschaft, nicht nur für ihre eigenen Ziele, sondern die palästinensische Sache zu kämpfen. Jeden Abend, wenn in Ramallah neue Gefangene freigelassen wurden, schallte ein Refrain durch die Menge: „Das Volk will die Hamas! Das Volk will die Hamas!“, berichtete die „New York Times“ diese Woche.

Popularität der Hamas im Aufschwung

Die Palästinensische Autonomiebehörde, die seit mehr als zwei Jahrzehnten Städte und Gemeinden im Westjordanland verwaltet, ist unpopulär und wird weithin als Handlanger der israelischen Besatzer angesehen. Die Frustration über die Führung der Behörde und die Korruptionsvorwürfe haben sich im vergangenen Jahr durch die Zunahme der Gewalt durch israelische Siedler noch verschärft.

Zwar weisen politische Fachleute darauf hin, dass die Unterstützung für die Hamas auf eine Minderheit der Einwohner und Einwohnerinnen beschränkt ist. Doch angesichts der Befürchtung, dass im Westjordanland ein größerer Krieg ausbrechen könnte, sagen viele, dass die Befürwortung der Terrororganisation nachhaltig zunehmen könnte.

Berichte von Misshandlung in Gefängnissen

Zusätzlich Zuspruch könnte die Hamas durch Berichte von freigelassenen Häftlingen bekommen, wonach das Verhalten der Wärter in israelischen Gefängnissen nach dem 7. Oktober in Brutalität gekippt sei. Die Gefängnisbeamten und -beamtinnen hätten Wasser und Strom rationiert und alle Kontakte zur Außenwelt – sei es in Form von Medien oder Privatbesuchen – verboten.

Der BBC liegen Berichte von sechs Freigelassenen über Misshandlungen und kollektive Bestrafungen vor. Sie hätten angegeben, mit Stöcken geschlagen worden zu sein, Kleidung, Essen und Decken seien ihnen verweigert worden. Hunde mit Maulkorb seien auf sie gehetzt, Frauen mit Vergewaltigung bedroht worden, Wärter hätten zudem Tränengas in die Zellen gesprüht. Die Gefangenen hätten die Torturen als „Rache“ für den Terrorangriff der Hamas verstanden.

Jubel über die Freilasung palästinensicher Häftlinge in Ramallah
APA/AFP/Jaafar Ashtiyeh
Die Rückkehr der Inhaftierten wird in den Palästinensergebieten frenetisch gefeiert

Hamas setzt Verhandlungen über Geiselfreilassung aus

Der israelische Strafvollzugsdienst gab gegenüber der BBC zu Protokoll, dass alle Gefangenen im Einklang mit dem Gesetz inhaftiert seien und über alle gesetzlich vorgeschriebenen Grundrechte verfügten. „Uns sind die von Ihnen beschriebenen Vorwürfe nicht bekannt“, hieß es in der Erklärung. „Gefangene und Häftlinge haben jedoch das Recht, eine Beschwerde einzureichen, die von den offiziellen Stellen umfassend geprüft wird.“ Eingeräumt wurde aber, dass in den vergangenen Wochen strengere Beschränkungen in den Gefängnissen verhängt worden seien, darunter die Konfiszierung von elektronischen Geräten und die Streichung von Familienbesuchen.

Am Samstag sagte der stellvertretende Chef der Hamas, Saleh al-Aruri, unter den verbliebenen Geiseln seien nur Männer, die in der Armee gedient hätten, und Soldaten. Verhandlungen über die Freilassung weiterer Geiseln würden erst nach Ende des Gaza-Krieges fortgesetzt. Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant erklärte dagegen, es seien noch 15 Frauen und zwei Kinder unter den Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die israelische Armee musste am Wochenende sechs Familien von Geiseln darüber informieren, dass ihre Angehörigen nicht mehr leben.

Schmerzhafte Erinnerungen Israels

Die Erinnerungen Israels an Geiselvereinbarungen in der Vergangenheit sind teils bitter. Der Soldat Gilad Schalit war fünf Jahre in der Gewalt der Hamas, bevor er 2011 gegen 1.027 Palästinenser ausgetauscht wurde. Es war das erste Mal in fast drei Jahrzehnten, dass ein gefangener israelischer Soldat lebend zurückkehrte.

Bis heute wird in Israel darüber gestritten, ob dieser hohe Preis gerechtfertigt war – zumal einer der 2011 Freigelassenen Jahja Sinwar war: Der heutige Chef der Hamas gilt als einer der Drahtzieher hinter den Angriffen vom 7. Oktober. Und auch andere Terroristen fanden sich darunter, insgesamt sollen die damals freigelassenen Häftlinge für den Tod von etwa 600 Israelis verantwortlich gewesen sein.