Fadenkreuz über einem israelischem Ziel in Gaza
Reuters/Israel Defence Force
„Zentraler Faktor“

Künstliche Intelligenz im Krieg gegen Hamas

Seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober führt Israel im Gazastreifen eine bisher beispiellose Militäroffensive gegen die radikalislamische Hamas. Nahezu täglich gibt das Militär Auskunft über Fortschritte bei den zuletzt mit einer siebentägigen Feuerpause unterbrochenen Kampfhandlungen. Was einem Medienbericht zufolge bisher kaum Beachtung gefunden habe, seien allerdings die Methoden, mit denen die Ziele im Gazastreifen ausgewählt werden – und die hier offenbar zentrale Rolle von künstlicher Intelligenz (KI).

Die Israelischen Streitkräfte (IDF) seien seit Langem für ihre technischen Fähigkeiten bekannt, wie der „Guardian“ mit Verweis auf Israels „ersten KI-Krieg“ gegen die Hamas im Mai 2021 berichtet. Eine Analyse von IDF-Aussagen zum Gaza-Einsatz sowie zuletzt von den Onlinemagazinen +972 und Local Call veröffentlichte Recherchen samt Interviews mit Geheimdienstquellen, pensionierten Beamten und weiteren mit der Sache vertrauten Personen würden nun nahelegen, dass „maschinelles Lernen und fortschrittliche Datenverarbeitung“ im laufenden Gaza-Krieg in einem noch weit größeren Ausmaß zum Einsatz kommen.

Unter den hier angesprochenen „Werkzeugen“ hebt der „Guardian“ eine offenbar auf Habsora (Hebräisch für Botschaft, Anm.) getaufte KI-Plattform hervor, mit der die Suche nach Angriffszielen „erheblich beschleunigt“ worden sei. Das habe den „Guardian“-Angaben zufolge auch der Chef der IDF, Aviv Kochavi, einmal in einem Interview nahegelegt.

Laut Kochavi habe „diese Maschine“, sobald sie während des Krieges Israels gegen die Hamas im Mai 2021 „aktiviert wurde“, 100 mögliche Ziele pro Tag identifiziert. „Um das in die richtige Perspektive zu rücken“, erinnerte der IDF-Chef an die frühere Trefferquote im Gazastreifen mit 50 Zielen pro Jahr.

„Berge von Rohdaten“

Dass sich das KI-basierte Habsora-System nun auch im neuerlichen Krieg gegen die Hamas im Einsatz befindet, findet sich in einer kurzgehaltenen Erklärung nun auch auf der IDF-Website. Abseits davon sind offizielle Auskünfte, etwa über die genaue Funktionsweise des als klassifiziert geltenden und somit geheimen KI-Projekts, rar.

Grob umrissen fasst die seit 2021 laufende KI-Plattform alle vorhandenen Daten über terroristische Gruppen im Gazastreifen in einem System zusammen, wie ein Bericht der „Jerusalem Post“ („JP“) nahelegt. Die Rede ist von „Bergen von Rohdaten, die durchkämmt werden müssen, um die für die Durchführung eines Angriffs erforderlichen Schlüsselstücke zu finden“.

Beispielhaft verweist die Zeitung auf ein offenbar automatisiert und somit deutlich schneller ermöglichtes Aufspüren von Raketenabschussvorrichtungen. Das System könne „Veränderungen im Gelände automatisch und in Echtzeit … erkennen“. So seien den „JP“-Angaben zufolge 2021 etwa etliche Raketenwerfer ausfindig gemacht und zerstört worden.

„Target Factory“

Auch im laufenden Gaza-Krieg hätten die israelischen Streitkräfte mittlerweile den großangelegten Einsatz von KI eingestanden, wie zuletzt etwa die Times of Israel berichtete. Die Identifizierung von Angriffszielen sei weiterhin Aufgabe einer als „Target Factory“ (Zielfabrik) bezeichneten, „mit Cybersicherheit, Dekodierung und Forschung betrauten“ Spezialeinheit.

Während des Krieges hat diese laut Times of Israel mit anderen nachrichtendienstlichen Einheiten des israelischen Militärs zusammengearbeitet, um schnell Ziele zu finden, damit diese dann angegriffen werden können. Das US-Portal Politico berichtet in diesem Zusammenhang von einer erhöhten Nachfrage nach hochmoderner Verteidigungstechnologie aus Israel.

Nur wenige Stunden nach dem Hamas-Angriff habe beispielsweise das US-Drohnen-Start-up Skydio Anfragen vom israelischen Militär über Aufklärungsdrohnen erhalten, „die bereits von der US-Armee verwendet werden, um Hindernisse autonom zu umfliegen und 3-D-Scans von komplexen Strukturen wie Gebäuden zu erstellen“.

15.000 Ziele in 35 Tagen

Auf künstliche Intelligenz basierende Systeme seien im Gaza-Krieg wohl „in signifikanter Weise“ im Einsatz, heißt es im „Guardian“. Allerdings zeichne sich erst nach und nach ein Bild etwa des Ausmaßes ab. Die Zeitung verweist allen voran auf IDF-Angaben über die Anzahl der erfassten und auch angegriffenen Ziele. Allein in den ersten 35 Kriegstagen bezifferten die israelischen Streitkräfte die Zahl der Angriffe mit rund 15.000. Zum Vergleich: 2014 waren es innerhalb von 51 Tagen zwischen 5.000 und 6.000 gewesen.

Teil der KI-Plattform sei schließlich auch eine über die letzten Jahre aufgebaute, bis zu 40.000 mutmaßliche Hamas-Kämpfer umfassende Datenbank – samt Bewegungsprofilen und möglichen Aufenthaltsorten. „Wir arbeiten kompromisslos daran zu definieren, wer und was der Feind ist. Die Hamas-Aktivisten sind nicht immun – egal, wo sie sich verstecken“, zitiert der „Guardian“ dazu einen namentlich nicht genannten israelischen Beamten.

Durch die sich in diesem Zusammenhang abzeichnende Ausweitung „komplexer und undurchsichtiger automatisierter Systeme“ steige aber auch die Besorgnis vor Risiken für die Zivilbevölkerung. Mit „andere Staaten werden zusehen und lernen“ stellt laut „Guardian“ unterdessen ein ehemaliger US-Sicherheitsbeamter ein offenbar großes Interesse anderer Militärs am israelischen KI-Know-how außer Frage.

Verweis auf Ausmaß der Zerstörung

Experten für künstliche Intelligenz und bewaffnete Konflikte äußerten laut „Guardian“ unterdessen Zweifel an der Behauptung, wonach KI-basierte Systeme die Schäden für die Zivilbevölkerung verringern, indem sie eine genauere Zielerfassung fördern. Während die israelische Tageszeitung „Jediot Achronot“ berichtete, dass die hier zuständige IDF-Spezialeinheit „so weit wie möglich sicherstellt, dass keine unbeteiligten Zivilisten zu Schaden kommen“, verweisen andere auf die sichtbaren Auswirkungen der Bombardierung.

„Schauen Sie sich die physische Landschaft des Gazastreifens an“, zitierte der „Guardian“ Richard Moyes von der Nichtregierungsorganisation Article36, die sich für die Verringerung von Schäden durch Waffen einsetzt: „Wir sehen, wie ein Stadtgebiet mit schweren Sprengstoffwaffen großflächig platt gemacht wird. Die Behauptung, dass es sich um eine präzise und begrenzte Gewaltanwendung handelt, wird durch die Fakten nicht bestätigt.“

Dem stehen aber ohnehin Aussagen vonseiten des israelischen Militärs entgegen. So bestätigten etwa in den ersten Tagen der Offensive die israelischen Luftstreitkräfte „rund um die Uhr“ geflogene Angriffe auf den Gazastreifen. Man greife nur militärische Ziele an, wie es damals hieß – man gehe aber „nicht chirurgisch vor“.