Brennende kollabierte Gebäudeteile in Chan Junis
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
„Intensivster Tag“

Israel meldet schwere Kämpfe in Chan Junis

Die israelische Armee kämpft nach der Ausweitung ihrer Bodeneinsätze auf den gesamten Gazastreifen nun eigenen Angaben zufolge auch „im Herzen von Chan Junis“, der größten Stadt im Süden des Küstengebiets. Soldaten lieferten sich dort heftige Gefechte mit der Hamas, erklärte das Militär am Dienstag. „Es ist der intensivste Tag seit Beginn der Bodenoffensive“, sagte der zuständige Gebietskommandant, General Jaron Finkelman.

Nach Angaben der israelischen Armee umstellen Soldaten die größte Stadt im Süden des Gazastreifens. „Unsere Kräfte kreisen nun den Raum Chan Junis ein“, sagte Israels Generalstabschef Herzi Halevi am Dienstag. Die Armee gehe nun auch gegen Hochburgen der islamistischen Hamas im Süden des Küstengebiets vor.

Nach Darstellung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hat die Armee rund die Hälfte aller Bataillonskommandeure der Hamas getötet. Das sagte er auf einer Pressekonferenz am Dienstagabend. Die israelische Armee geht davon aus, dass die Terrororganisation insgesamt 24 dieser militärischen Abteilungen mit jeweils rund 1.000 Mitgliedern hat. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. „Wir werden nicht vergessen und wir werden nicht vergeben“, sagte Netanjahu weiter.

Gazastreifen: Israelische Truppen rücken weiter vor

Israels Militärtruppen rücken weiterhin in den Süden des Gazastreifens gegen die Hamas vor. Die israelischen Soldaten sind bereits in die Stadt Chan Junis eingedrungen und bereiten sich darauf vor, die größte Stadt im Süden des Gazastreifens einzukesseln.

Die Hamas forderte die Einstellung der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen. Erst dann werde es Verhandlungen und den Austausch von Geiseln geben, sagte Hamas-Vertreter Osama Hamdan vor der Presse. Netanjahu sei für das Leben der Geiseln voll verantwortlich. Dass die Vereinbarungen für den Austausch von Geiseln gegen Häftlinge nicht vollständig umgesetzt worden seien, gehe ebenfalls auf sein Konto.

Bericht: USA gehen von Bodenoffensive bis Jänner aus

In der US-Regierung wird laut einem Medienbericht indes davon ausgegangen, dass Israels Bodenoffensive im Süden noch bis Jänner andauert. Wie der US-Sender CNN unter Berufung auf mehrere ranghohe US-Regierungsbeamte berichtete, könnte Israel in einigen Wochen zu einer „weniger intensiven, stark lokalisierten Strategie übergehen“, die auf bestimmte Hamas-Terroristen und -Führer abziele.

Das Weiße Haus sei „zutiefst besorgt“ darüber, wie sich die israelischen Operationen in den nächsten Wochen entwickeln werden, wurde ein Beamter zitiert. Sorge bereiteten auch die wachsenden Spannungen im Westjordanland. Als Reaktion darauf erließ die US-Regierung Einreisebeschränkungen, die sich unter anderem gegen extremistische israelische Siedler richten.

UNRWA: Können Versorgung nicht sicherstellen

Angesichts der heftigen Kämpfe und einer neuen Massenflucht sieht sich das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) nicht mehr imstande, alle schutzsuchenden Menschen zu versorgen. Israel fordere die Menschen in Chan Junis auf, „nach Rafah zu ziehen, um Hilfe zu erhalten – aber wir sind nicht in der Lage, Hunderttausende Binnenflüchtlinge zu versorgen“, schrieb der UNRWA-Direktor für Gaza, Thomas White, am Dienstag auf X (Twitter).

In den Süden des Küstengebiets waren nach Aufforderung der israelischen Armee Hunderttausende schutzsuchende Zivilistinnen und Zivilisten aus dem bereits zuvor heftig umkämpften Norden geflüchtet. Die Armee warnte die Bevölkerung der Stadt am Dienstag in Flugblättern vor einem bevorstehenden Angriff.

Offensive in Südgaza ausgeweitet

Schon in der Nacht hatte es Berichte über eine deutliche Ausweitung der israelischen Offensive gegeben. Die Zivilbevölkerung wurde aufgerufen, „falls erforderlich“, sichere Bereiche aufzusuchen. Dafür sei eigens eine „humanitäre Zone innerhalb des Gazastreifens“ eingerichtet worden. Dem Militär sei „durchaus bewusst, dass der Platz und der Zugang begrenzt“ seien, sagte der Sprecher Jonathan Conricus.

Das israelische Militär hatte am Dienstag Flugblätter über Chan Junis abgeworfen. „Wir machen jetzt mit der zweiten Phase weiter. Eine zweite Phase, die militärisch schwierig sein wird“, sagte ein Regierungssprecher. Israel sei offen für „konstruktives Feedback“, was die Minderung des Leids für Zivilisten angehe. Die Ratschläge müssten aber im Einklang mit dem Ziel stehen, die Hamas zu zerstören.

Karte zeigt den Gaza-Streifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: CNN/ISW/Warmapper

Bericht von Raketen auf Schulen

Die israelische Nachrichtenseite Ynet berichtete von insgesamt 15 Geschoßen, die von dem Küstengebiet aus auf den Großraum Tel Aviv abgefeuert worden seien. Ein Mann wurde nach Angaben des Rettungsdienstes Magen David Adom von einem Raketensplitter leicht verletzt.

Der TV-Sender N12 berichtete zudem, eine Schule im Norden Tel Avivs sei von Raketenteilen getroffen worden. Bei einem Raketeneinschlag in Aschkelon wurden zwei Frauen durch Splitter leicht verletzt. Zuvor hatte die Hamas mitgeteilt, dass sie Raketen auf die südisraelische Stadt Beer Scheva abgefeuert habe. Die Angaben konnten zuletzt nicht unabhängig überprüft werden.

Auf der Gegenseite hieß es, dass bei einem mutmaßlichen Beschuss einer Schule im südlichen Gazastreifen mindestens 25 Menschen getötet worden seien. Wie das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium zudem mitteilte, hielten sich in der Schule geflüchtete Palästinenser auf.

Palestinenser auf der Flucht nach Rafah
APA/AFP/Mahmud Hams
Hunderttausende flohen aus dem Norden Gazas in den Süden

Warnungen zur Lage in Gaza

Die Lage im Gazastreifen wird nach den Worten eines ranghohen Vertreters der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „von Stunde zu Stunde schlimmer“. Es werde verstärkt überall bombardiert, auch in den südlichen Gebieten wie der Stadt Chan Junis und dem an Ägypten grenzenden Rafah, sagte der WHO-Gesandte für die palästinensischen Gebiete, Richard Peeperkorn.

Die UNO-Koordinatorin für humanitäre Angelegenheiten in den palästinensischen Gebieten, Lynn Hastings, sagte, die Voraussetzungen für humanitäre Hilfe im Gazastreifen seien „nicht gegeben“. Es sei „nirgendwo sicher in Gaza, und man kann nirgendwo mehr hin“, sagte sie.

UNICEF: „Herzlos“

Der Sprecher des UNO-Kinderhilfswerks (UNICEF), James Elder, sagte, sichere Zonen für Zivilisten könnten „weder sicher noch humanitär sein, wenn sie einseitig erklärt werden“. Sie seien „nicht wissenschaftlich, sie sind nicht rational, sie sind nicht möglich, und ich glaube, dass die Behörden sich dessen bewusst sind“. Das sei „herzlos und zeigt eine Verstärkung der Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern und Frauen“.

„Die Zahl der getöteten Zivilisten nimmt rapide zu“, schrieb unterdessen UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini in einer Mitteilung. Mit der Ausweitung der Militäroperation im Süden „wiederholen sich die Schrecken der vergangenen Wochen“. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden inzwischen fast 15.900 Menschen getötet. Diese Opferzahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen.