Kampf um verteilte Nahrungsmittel in Gaza
AP/Hatem Ali
Humanitäre Katastrophe in Gaza

Internationaler Druck auf Israel steigt

Mit Bombardements und intensivem Häuserkampf in Teilen von Chan Junis hat die israelische Armee ihre Bodenoffensive auf den Süden Gazas ausgeweitet. Angesichts der katastrophalen humanitären Situation im Gazastreifen und Tausender getöteter Zivilisten und Zivilistinnen erhöht sich der Druck auf Israel. Auch in den USA wird der Ton gegenüber der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu schärfer.

US-Präsident Joe Biden hielt sich zur Ausweitung der israelischen Bodenoffensive auf den Süden Gazas mit Aussagen zurück und verurteilte stattdessen auf das Schärfste die Gewalt der Hamas gegen Frauen am 7. Oktober. Doch Regierungsmitglieder und -beamte werden mit ihren Forderungen, mehr für die humanitäre Lage in Gaza zu tun, direkter. Die „New York Times“ („NYT“) bezeichnete diese Unterschiede in Tonfall und Wortwahl als „Good cop, bad cop“-Diplomatie (dt.: guter Polizist, böser Polizist).

Das Weiße Haus sei „zutiefst besorgt“ darüber, wie sich die israelischen Operationen in den nächsten Wochen entwickeln werden, zitierte etwa CNN einen ranghohen US-Beamten. Für den Transport von Hilfsgütern in den Gazastreifen werde nicht genug getan, mahnte US-Außenamtssprecher Matthew Miller.

Mehr humanitäre Unterstützung gefordert

Zuletzt forderte auch Vizepräsidentin Kamala Harris, dass Israel mehr tun müsse, „um unschuldige Zivilisten zu schützen“. US-Außenminister Antony Blinken betonte, dass es für die USA unerlässlich sei, dass sich der „massive Verlust an zivilem Leben und die Vertreibung (…) im Süden nicht wiederholen“ dürften.

Der ehemalige Sondergesandte für den Nahen Osten, Martin Indyk, sprach gegenüber der „NYT“ von einer „sorgfältig kalibrierten öffentlichen Kampagne“. Sie sei aus der Sorge entstanden, dass die Botschaft im Privaten nicht ankomme. Biden wolle so weit wie möglich vermeiden, Netanjahu in der Öffentlichkeit zu kritisieren.

Zerstörtes Wohngebäude in Khan Younis, Gaza
Reuters/Ahmed Zakot
Die israelische Armee verlagerte den Schwerpunkt der Bodenoffensive auf Chan Junis im Süden Gazas

Zeitfenster für Unterstützung wird kleiner

Die bisherige Strategie Bidens, Israels Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen, gerät auch in den USA in Bedrängnis. Zwar gestehen Beamte zu, dass dadurch Israel gehindert worden sei, den Krieg auf die Hisbollah im Libanon auszuweiten. Zudem sei eine Öffnung des Gazastreifens für humanitäre Hilfe erzwungen worden.

Doch das Zeitfenster für die öffentliche Unterstützung für Israels Offensive im Gazastreifen wird kleiner. Selbst in seiner eigenen Partei, beim linken Flügel der Demokraten, wird Biden mit dem Vorwurf konfrontiert, die Tötung zahlreicher Zivilisten zu ermöglichen.

„Wie kann man einerseits einer souveränen Nation wie Israel erlauben, Terrorziele zu bekämpfen, und sie andererseits dazu bringen, das auf eine Weise zu tun, die den Schaden für die Zivilbevölkerung minimiert?“, das sei „die eigentliche Frage“, sagte Jake Sullivan, Nationaler Sicherheitsberater im Weißen Haus.

UNO warnt vor Gräueltaten

Auch international mehrt sich Kritik an der Vorgehensweise Israels und der Unterstützung der USA. Japans Premierminister Fumio Kishida betonte am Mittwoch in einem Telefonat mit Netanjahu, dass es wichtig sei, zivile Opfer im Konflikt mit der Hamas zu minimieren.

Der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Volker Türk warnte am Mittwoch vor einem erhöhten Risiko von Gräueltaten im Gazastreifen: „Es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, sowohl von den betroffenen Parteien als auch von allen Staaten, insbesondere von denen mit Einfluss, um solche Verbrechen zu verhindern.“

Noch einen Schritt weiter ging Jan Egeland, Leiter der NGO Norwegischer Flüchtlingsrat: Länder, die Israel mit Waffen unterstützen, hätten einen „bleibenden Makel auf ihrem Ruf“. Er verurteilte den Angriff der Hamas am 7. Oktober und forderte die Freilassung der Geiseln. Israels Militärkampagne könne aber „in keiner Weise als Selbstverteidigung bezeichnet werden“.

UNO-Chef: Humanitäre Katastrophe abwenden

In einem seltenen Vorgang forderte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres den Weltsicherheitsrat dringend auf, sich für die Abwendung einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen einzusetzen. In einem Brief berief er sich am Mittwoch erstmals auf den Artikel 99 der UNO-Charta. Diese erlaubt dem UNO-Generalsekretär, den Sicherheitsrat auf „jede Angelegenheit hinzuweisen, die seiner Meinung nach die Gewährleistung von internationalem Frieden und Sicherheit gefährden kann“.

Robinson: Unterstützung Israels braucht Bedingungen

Die ehemalige UNO-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson, Vorsitzende der 2007 von Nelson Mandela gegründeten Gruppe The Elders (dt.: Die Ältesten), forderte Länder, die Israel militärische Hilfe leisten, ebenfalls auf, diese zu überprüfen und Bedingungen festzulegen. Das betreffe insbesondere die USA.

Geschehe das nicht, seien die USA für das Problem verantwortlich und würden mit vielen Toten in Verbindung gebracht werden, sagte sie gegenüber CNN. Die „unverhältnismäßige Reaktion“ Israels habe ein Maß an Unmenschlichkeit gegenüber den Palästinensern und Palästinenserinnen in Gaza erreicht, das nicht mehr hinnehmbar sei.

Menschen stehen Schlange vor Wasserausgabe in Rafah, Gaza
Reuters/Mohammed Salem
Hilfsorganisationen sehen kaum noch Möglichkeiten, allen Schutzsuchenden zu helfen

„Apokalyptische“ Zustände im Süden Gazas

Die auf den Süden des Palästinensergebiets ausgeweitete Bodenoffensive Israels löste eine neue Massenflucht aus. Hilfsorganisationen schlagen Alarm: Es gebe nicht ausreichend sichere Zonen für alle Schutzsuchenden. Es fehle an Mitteln, die notwendige Unterstützung zu geben, teilte das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) mit.

Die israelische Offensive im Süden sei ebenso verheerend wie im Norden des Gazastreifens und schaffe „apokalyptische“ Bedingungen, sagte der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths und gab an, im Namen der gesamten internationalen Hilfsgemeinschaft zu sprechen. Jede Möglichkeit sinnvoller humanitärer Maßnahmen sei verloren.

Korrespondent Cupal zur Lage im Gazastreifen

ORF-Korrespondent Tim Cupal meldet sich aus Tel Aviv und spricht über die aktuelle Lage. Mit Bombardements und intensivem Häuserkampf in Teilen von Chan Junis hat die israelische Armee ihre Bodenoffensive auf den Süden Gazas ausgeweitet.

UNO-Hilfslieferungen geplündert

Aufgebrachte Zivilisten haben am Mittwoch in Gaza nach Augenzeugenberichten UNO-Hilfslieferungen geplündert. Die Menschen seien in vier Lagerräume eingedrungen und hätten Mehl, Reis und andere Grundnahrungsmittel mitgenommen, hieß es. Sie hätten dem UNRWA vorgeworfen, Notleidenden nicht ausreichend zu helfen und stattdessen Hilfsgüter zu horten.

Augenzeugen hatten zuvor bereits berichtet, Mitglieder der Hamas hätten Hilfslieferungen von Lastwagen gestohlen und in ihren Autos mitgenommen, teilweise mit Waffengewalt. Israel hatte mehrmals die Sorge geäußert, humanitäre Hilfslieferungen für die Bevölkerung im Gazastreifen könnten auch in die Hände der Terrororganisation gelangen.

Die UNO beklagte, dass wegen der intensiven Kämpfe weniger Hilfe in den Süden des Gazastreifens gelange. Die Zahl der Lastwagen, die derzeit ankomme, belaufe sich in etwa auf 100 pro Tag.