Niederländische Zollbeamtinnen im Hafen von Rotterdam
APA/AFP/Simon Wohlfahrt
Niederlande

Ohnmacht gegenüber „Narcoterrorismus“

Die Schwemme harter Drogen, allen voran Kokain, von Südamerika Richtung Europa hat sich in jüngster Zeit noch einmal verschärft. Besonders die Niederlande sind gemeinsam mit Belgien als größte Umschlagplätze betroffen. Vorhandene Programme, um Jugendliche von der Drogenmafia fernzuhalten, werden auf eine harte Probe gestellt, die niederländische Regierung ist auf der Suche nach wirksamen Methoden gegen den „Narcoterrorismus“.

Europa wird vom Kokain überschwemmt: Der Europäische Drogenbericht 2022 legt nahe, dass ein kleiner pandemiebedingter Rückgang schnell wieder auf- und überholt wurde. Inzwischen werden in Europas Häfen wieder regelmäßig Rekordmengen sichergestellt, wobei selbst die Behörden davon ausgehen, dass die entdeckten Fuhren aus Südamerika nur ein Bruchteil dessen sind, was tatsächlich den Weg in die Städte findet. Die geschätzte weltweite Jahresproduktion betrug laut UNO-Angaben 2021 etwa 2.300 Tonnen, in Europa beschlagnahmt wurden im selben Jahr insgesamt 303 Tonnen.

Erst neulich stellten Polizei und Zoll in Spanien 7,2 Tonnen Kokain sicher, das in einem Container mit Tiefkühlfisch aus Südamerika ankam. Der Straßenverkaufswert entspricht rund einer halben Milliarde Euro. Am selben Tag wurde bekannt, dass die ungarische Polizei 155 Kilogramm Kokain in einem Bananencontainer im Donau-Hafen Csepel entdeckte, Straßenverkaufswert: rund 61 Millionen Euro. In einem weit größeren Umfang landet das Kokain aber in den Niederlanden.

Schon Zehnjährige gefährdet

Allein im Hafen von Rotterdam fingen Zoll, Hafenpolizei und Staatsanwaltschaft im Vorjahr 46.789 Kilo Kokain ab, ein Milliardengeschäft für die Kartelle, die oftmals Jugendliche für ihre Dienste missbrauchen. Die Sorge, dass große Teile der jungen Generation in die Drogenkriminalität abrutschen, lässt immer neue Pläne zum Gegensteuern entstehen. Denn die Betroffenen sind inzwischen alarmierend jung.

„Berichte über die Ausbeutung von Kindern im Alter von zehn oder zwölf Jahren durch Drogenbanden haben die niederländischen Behörden dazu veranlasst, neue Techniken zu untersuchen, um sie ‚zurückzurekrutieren‘, bevor sie zu hartgesottenen Kriminellen werden“, so der britische „Guardian“. Während seit 2015 die Zahl der einer Straftat verdächtigten Minderjährigen zurückgegangen sei, beobachte die Polizei vor allem in Amsterdam und Rotterdam mehr Gewaltverbrechen, die von jüngeren Menschen begangen werden.

"Aus Händen von Kriminellen zurückgewinnen

So setzen die niederländischen Behörden „glaubwürdige Botschafter“ für Jugendliche ein, also Menschen, die ein gutes Verständnis für die Lebensumstände dieser Jugendlichen haben und nicht zur Polizei gehören, aber mit ihr kooperieren. Oft sind es Menschen, die selbst als Straßenkinder aufwuchsen, die Kurve aber gekriegt haben.

„Unser oberstes Ziel ist es, junge Menschen aus den Händen von Kriminellen zurückzugewinnen, denn für sie sind sie nur Kanonenfutter“, wird Sharon Dijksma, Bürgermeisterin von Utrecht, zitiert: „Wenn Sie diese Gruppe junger Menschen nicht wieder in Ihre Gesellschaft integrieren, können Sie sie einsperren, aber wenn sie freikommen, werden sie unvermeidlich verloren sein.“

143 Millionen Euro im Jahr

Die Importe und die vielfältigen Auswirkungen des „Narcoterrorismus“ auf die Gesellschaft waren auch Thema bei der jüngsten Parlamentswahl. Seit Jahren ist das wachsende Problem bekannt. Großprozesse und Morde an Kronzeugen, deren Anwälten und Journalisten sorgten für viel Aufmerksamkeit. Die Niederlande seien längst ein „Narco-Staat“, die Zustände seien „wie in Italien in den 90er Jahren“, wie Kommentatoren wiederholt schrieben.

Wie Kokain wirkt

Kokain berauscht, hat aber schwerwiegende gesundheitliche Folgen. Die Sucht ist eine von vielen Nebenwirkungen.

Die Prävention wuchs parallel dazu zu einem beachtlichen Kostenfaktor heran. Für ein Programm, das 27 Gemeinden dabei helfen soll, Jugendliche zu schützen, fließen allein 82 Millionen Euro im Jahr. Ab 2025 wollen die Niederlande jährlich 143 Millionen Euro in die Prävention von Jugendkriminalität investieren.

Korruption, Folter und Mord

Die Jugendlichen werden von den Bossen nicht nur als Konsumenten und Dealer rekrutiert. Sie werden massenweise auch als „Extraktoren“ herangezogen, Jugendliche, die ins Hafengebiet eindringen, um an den Terminals die geschmuggelten Drogen abzufangen.

Aus Prozessen gegen Drogenkartelle in den Niederlanden weiß man, wie brutal die Gangs vorgehen. Bilder, Videos und Audiofiles zeigten etwa Folter und Morde, auf denen das Milliardengeschäft beruht. Dabei scheint es unerheblich, ob die Opfer aus den Reihen der Kriminellen stammen oder kleine Fische von der Straße sind. Dazu kommen Beschaffungskriminalität, Gewalt, Finanzdelikte und zerstörte Lebenswege. Auch die Korruption in den Häfen, beim Zoll und in der Polizei ist ein Problem. Ohne Hilfe von innen sei der Kokainimport in diesen Mengen nicht möglich, konstatiert auch die Regierung.

Schwieriger Ausblick

Ob die Niederlande mit der Ausweitung ihrer verschiedenen Präventionsprogramme von Justiz, Kinderschutzrat, Bewährungshilfe, Stiftungen und Jugendarbeit Erfolg haben werden, ist unklar. Auch die bisherigen Programme sind noch Gegenstand wissenschaftlicher Auswertung. Frühere Bilanzen bieten wenig Grund für Optimismus.

Im „Top 600“-Programm der Stadt Amsterdam etwa arbeitete ein spezialisiertes Team mit 600 gefährdeten Jugendlichen. Die Ergebnisse ließen nicht auf messbare Ergebnisse schließen. Großangelegte Studien, die auch sozioökonomische Faktoren und Diskriminierung von Minderheiten im Alltag berücksichtigen, sind rar. Man sei nicht naiv, so Bürgermeisterin Dijksma zum „Guardian“, man werde nicht alle retten, doch jeder Einzelne zahle sich aus.