Demonstranten auf dem Campus der Harvard Universität
Reuters/Brian Snyder
Antisemitismusvorwurf

US-Eliteunis auf dem Prüfstand

Die Vorsitzenden von US-Eliteuniversitäten sind angesichts antisemitischer Vorfälle zuletzt unter Druck geraten: Eine viel beachtete Anhörung der Hochschulpräsidentinnen von Harvard, der University of Pennsylvania und dem Massachussets Institute of Technology (MIT) sorgt seit Tagen für Empörung. Neben Rücktrittsaufrufen häufen sich Drohungen von Großspendern und Kritik am Umgang mit Meinungsfreiheit an den Universitäten.

„Die Ivy-League-Maske fällt“, hieß es in einem Leitartikel des „Wall Street Journal“ am Sonntag. „Die Ivy League fällt durch“, lautete der Titel einer Kolumne in der „New York Times“. Den Vorsitzenden der US-Eliteunis wird seit der Befragung im republikanisch geführten Bildungsausschuss des Kongresses vorgeworfen, sich nicht entschieden genug gegen Antisemitismus eingesetzt zu haben.

Im Zuge der Befragung räumten alle drei Präsidentinnen – Claudine Gay (Harvard), Liz Magill (University of Pennsylvania) und Sally Kornbluth (MIT) – antisemitische Vorfälle ein. Als die Abgeordnete Elise Stefanik die Präsidentinnen fragte, ob der „Aufruf zum Völkermord an den Juden“ an ihren Universitäten gegen Richtlinien zu Mobbing und Belästigung verstoße, kam es zu den vielfach kritisierten Aussagen.

Dr. Claudine Gay (Präsidentin der Harvard Universität), Liz Magill (Presidäntin der Universität Pennsylvania) und Dr. Sally Kornbluth (Präsidentin des MIT)
APA/AFP/Kevin Dietsch
Claudine Gay (Harvard), Lucy Magill (University of Pennsylvania) und Sally Kornbluth (MIT)

Völkermordaufruf: Wirbel um „Kontext“-Sager

„Das kann sein, abhängig vom Kontext“, antwortete Harvard-Präsidentin Claudine Gay. Auf die Aufforderung, mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworteten, sagte Gay erneut, das hänge vom Kontext ab. Die anderen Präsidentinnen äußerten sich ähnlich. Die Argumentation: Die Universitäten seien der freien Meinungsäußerung verpflichtet.

Ivy League

Die Ivy League ist ein Zusammenschluss der acht Universitäten Brown, Columbia, Cornell, Dartmouth, Harvard, Princeton, Pennsylvania und Yale. Sie zählen zu den prestigeträchtigsten der Welt und rangieren unter den besten 20 Universitäten der USA. Das MIT zählt nicht dazu, ist aber ebenso angesehen.

Das gelte auch bei Ansichten, die anstößig, beleidigend und hasserfüllt seien. „Wenn das Reden in ein Verhalten übergeht, kann es sich um Belästigung handeln“, sagte Magill. Sie fügte ebenfalls hinzu: „Es ist eine kontextabhängige Entscheidung.“

Recht auf Meinungsäußerung hat Sonderstellung

Später veröffentlichte Magill – die bereits seit September in der Kritik steht – ein Video, in dem sie sagte, sie habe sich in der Anhörung zu sehr auf den Grundsatz konzentriert, der besage, dass die freie Rede allein nicht strafbar sei, so wie es auch in der Verfassung stehe. Sie hätte aber sich stärker auf die unwiderlegbare Tatsache konzentrieren sollen, dass der Aufruf zum Völkermord am jüdischen Volk ein Aufruf zu einer der schrecklichsten Gewalttaten sei, die ein Mensch überhaupt begehen könne.

Das Recht zur freien Meinungsäußerung ist in den USA im ersten Zusatzartikel der Verfassung geregelt und hat eine Sonderstellung. Im Vergleich zu Österreich wird dieses Recht weiter ausgelegt. So ist es zum Beispiel erlaubt, eine Hakenkreuzflagge zu zeigen. Auch der Umgang mit Hassrede ist ein anderer.

Gay entschuldigte sich am Freitag in einem Interview mit der Unizeitung „The Harvard Crimson“ für ihre Aussagen. „In diesem Moment hätte ich die nötige Geistesgegenwart aufbringen sollen, um zu meiner Wahrheit zurückzukehren, nämlich dass Aufrufe zur Gewalt gegen unsere jüdische Gemeinschaft – Drohungen gegen unsere jüdischen Studenten – in Harvard keinen Platz haben und niemals unwidersprochen bleiben werden“, sagte sie.

USA: Anhörung zu Antisemitismus an Unis

Die Abgeordnete Elise Stefanik fragte die Präsidentinnen, ob der „Aufruf zum Völkermord an den Juden“ an ihren Universitäten gegen Richtlinien verstoße. „Das kann sein, abhängig vom Kontext“, antwortete Harvard-Präsidentin Claudine Gay. Die anderen Präsidentinnen äußerten sich ähnlich. Die Argumentation sei, dass die Universitäten der freien Meinungsäußerung verpflichtet sind, auch bei Ansichten, die anstößig, beleidigend und hasserfüllt sind.

Hochschulleiterin gibt nach scharfer Kritik auf

Erste Konsequenzen gab es am Wochenende: Magill legte ihr Amt nieder. Dem Schritt war heftige Kritik von Politik und Großspendern vorausgegangen: Ein wichtiger Geldgeber der University of Pennsylvania zog eine Spende in Höhe von rund 100 Millionen US-Dollar (rund 93 Mio. Euro) zurück und forderte den Rücktritt. Der Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, bezeichnete Magills Äußerungen als inakzeptabel und beschämend.

Kritik kam auch vom Weißen Haus. Am Freitag forderten zudem mehr als 70 Kongressabgeordnete die Leitungsgremien von Harvard, Penn und MIT auf, die Präsidentinnen zu entlassen. MIT-Präsidentin Kornbluth bekam seither Rückendeckung vom Kuratorium ihrer Universität.

Harvard-Präsidentin Gay sah sich zuletzt zwar wiederholt mit Kritik des gewichtigen Großspenders und Harvard-Absolventen Bill Ackman konfrontiert. Die Harvard Corporation, das Leitungsgremium der Universität, bekräftigte in einer Erklärung am Dienstag jedoch ihre Unterstützung für Gay. Sie sei „die richtige Führungspersönlichkeit, um unserer Gemeinschaft bei der Heilung zu helfen und die sehr ernsten gesellschaftlichen Probleme anzugehen, mit denen wir konfrontiert sind“.

Kommentar: „Amerikanische Grundprinzipien untergraben“

Kommentatorinnen und Kommentatoren stellen den Eliteuniversitäten indes ein verheerendes Zeugnis aus: „Die Realität ist, dass viele Hochschulen heutzutage Ansichten vertreten, die klassische liberale Werte und amerikanische Grundprinzipien untergraben“, heißt es in einem Meinungsartikel des „Wall Street Journal“. „Toleranz gegenüber Antisemitismus ist ein hässliches Beispiel, aber das Problem liegt tiefer und erfordert dringend Aufmerksamkeit“, so die Zeitung.

Die Penn-Professorin Claire Finkelstein schrieb in der „Washington Post“ einen Leitartikel, in dem sie die Einschränkung der freien Meinungsäußerung zum Schutz der Studierenden forderte und Universitätspräsidentinnen aufforderte, „die Rolle, die offene Meinungsäußerung und akademische Freiheit im Bildungsauftrag spielen“, zu überdenken.

Kritik an Einflussnahme durch Politik und Großspender

Die anhaltende Debatte in den USA dreht sich nicht allein um den Umgang mit Antisemitismus und Meinungsfreiheit, sondern auch um Einflussnahme durch Politik und wohlhabende Privatpersonen. „Was Sie jetzt sehen, ist eine Handvoll super-ultrareicher Individuen – Plutokraten, die man wohl Philanthropen nennen würde –, die einen unglaublichen Einfluss auf die Hochschulbildung haben“, wurde Isaac Kamola, Professor am Trinity College in Connecticut, in der „Financial Times“ zitiert.

Wut auf akademische Elite als Faktor?

Beobachterinnen und Beobachter orten zudem Kalkül seitens der Republikaner: Elise Stefanik, Fragestellerin und Anhängerin von Ex-Präsident Donald Trump, bediente im Zuge des Wahlkampfs 2021 die Rhetorik vom „großen Austausch“, schrieb der „Spiegel“. „Der Hass der Rechten auf die akademische Elite ist riesig“, heißt es dort.

„Warum die Unipräsidentinnen nicht einfach mit ‚Ja‘ antworteten, liegt wohl an der Unterscheidung zwischen Meinungsfreiheit und dem Verhaltenskodex an den Universitäten. Das bedeutet, alles Mögliche ist sagbar, solange damit nicht Individuen bedroht werden“, so der „Spiegel“.

„Es ist schwer, auf Stefaniks Seite zu stehen, wenn man bedenkt, dass sie die groteske Verwandlung der Republikanischen Partei in einen wahnsinnigen Trump-Kult verkörpert, aber sie hatte recht, als sie die ausflüchtenden Präsidentinnen festnagelte“, kommentierte „NYT“-Kolumnistin Maureen Dowd.

Bildungsministerium leitete Ermittlungen ein

Der Streit über den Konflikt in Nahost hat sich in den vergangenen Wochen auch an Universitäten und Schulen in den USA entladen. US-Medien berichteten über Vorfälle körperlicher Gewalt oder deren Androhung. Auf Schulgeländen tauchten antisemitische und rassistische Graffitis auf. Auf online kursierenden Videos war zu sehen, wie junge Menschen Poster mit Fotos der Hamas-Geiseln herunterreißen.

Das US-Bildungsministerium hatte wegen antisemitischer und islamophober Vorfälle an US-Bildungseinrichtungen Ermittlungen eingeleitet – darunter gegen Harvard, und die Eliteuniversitäten Columbia und Cornell.