Menschen in der Wiener Innenstadt
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Ukrainische Geflüchtete

Gut ausgebildet und gewillt zu bleiben

Seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 war zwischenzeitlich ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht. Fast 6,3 Mio. Ukrainerinnen und Ukrainer fanden Schutz im Ausland, 5,9 Millionen davon in Europa. Je weiter die Geflüchteten in den Westen gezogen sind, desto weniger Rückkehrwünsche haben sie – und desto besser gebildet sind sie. Das ergaben Auswertungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien.

Rund 3,7 Mio. Menschen sind derzeit innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Um über die Situation jener, die es über die Grenzen geschafft haben, mehr zu erfahren, führten Forscherinnen und Forscher der ÖAW und der WU Wien im Frühjahr 2022 rund 1.500 Interviews in Ankunftszentren in Wien sowie im polnischen Krakau durch.

Für die am Mittwoch im Fachjournal Plos One publizierte Studie, in die auch ukrainische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Studierende eingebunden waren, wurden Daten zum soziodemografischen Hintergrund, Rückkehrintentionen, Haltungen und Werte der Geflüchteten erhoben.

Hohes Bildungsniveau

Auffallend dabei war das hohe Bildungsniveau der Befragten: Während in der ukrainischen Allgemeinbevölkerung 30 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen tertiären Bildungsabschluss haben, war das in der Krakauer Stichprobe bei 66 Prozent und in der Wiener Stichprobe bei 83 Prozent der Fall. Etwa fünf von zehn Auskunftspersonen in Wien gaben an, einen Master- oder Doktortitel zu haben, jede oder jeder Vierte hatte einen Bachelorabschluss.

Die Erhebungen decken sich mit jenen anderer EU-Länder: Das Statistische Bundesamt im deutschen Wiesbaden gab vor einer Woche bekannt, dass der Akademikeranteil unter ukrainischen Zuwanderern und Geflüchteten im Erwerbsalter deutlich höher sei als jener in der deutschen Gesamtbevölkerung. Die Ergebnisse in Deutschland und Österreich zeigten, dass das Bildungsniveau der ukrainischen Frauen jenes der Männer übertrifft.

Sonderstellung unter Geflüchteten

Die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz gewährt ukrainischen Kriegsflüchtlingen in allen EU-Ländern einen Aufenthaltstitel, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Wohnraum, medizinische Versorgung und den Zugang zu Bildung für Kinder. Damit haben sie bessere Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft des Aufnahmelandes zu integrieren, als jede andere frühere Flüchtlingsgruppe in Europa.

Allerdings heißt es in der Studie: „Da niemand weiß, wie sich der Krieg entwickeln wird, sind Berichte von Zwangsmigranten über ihre Intention zu bleiben oder zurückzukehren weitgehend hypothetisch. Dennoch sind die Antworten ein wichtiger Indikator für die Erwartungen der Flüchtlinge und auch für die zukünftigen Entwicklungen in den Aufnahmeländern.“

Bleibewille im Westen höher

Sowohl in Polen als auch in Österreich war ein großer Teil der Befragten unentschlossen, ob sie zurückkehren wollten oder nicht. Der Anteil derjenigen, die im Ankunftsland bleiben wollten, war jedoch in Österreich mit 47 Prozent signifikant größer als in Polen (28 Prozent). In Polen gaben 14 Prozent zudem an, dass sie in die Ukraine zurückkehren könnten, selbst wenn der Krieg andauere, in Österreich hielten das nur sechs Prozent für denkbar.

Die Studie zieht den Schluss, dass Nachbarländer wie Polen von den Geflüchteten aufgrund der geografischen Nähe gewählt wurden, während bei weiter westlich gelegenen Aufnahmeländern die hohe Lebens- und Wohnqualität relevant war. Entsprechend höher ist in letzteren die Bereitschaft zu bleiben.

Aktive Wahl des Aufnahmelandes

Festgehalten wird auch, dass die aktive Wahl des Aufnahmelandes weitgehend einzigartig für die ukrainische Vertreibung ist. Anders als bei früheren Flüchtlingsbewegungen ist hier eine bereits bestehende Vertrautheit von Relevanz, etwa durch frühere Reise- und Studienaufenthalte sowie Sprachkenntnisse.

„Für die westeuropäischen Aufnahmeländer bedeutet der Zustrom von hoch qualifizierten Flüchtlingen, dass eine rasche Anerkennung von akademischen Abschlüssen oder Schnellprogramme zur Ausbildungsverbesserung von entscheidender Bedeutung sind, um das krasse Missverhältnis zwischen den Qualifikationen der Flüchtlinge und den Arbeitsplätzen, in denen sie letztendlich unterkommen, zu beseitigen“, heißt es in der Studie.

Berufliche Einbindung ausbaufähig

Erstautorin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger vom Institut für Sozialpolitik der WU Wien hält dazu fest: „Da die Dequalifizierung bei Frauen nachweislich noch ausgeprägter ist, sollte die überwiegend weibliche Flüchtlingsbevölkerung aus der Ukraine mit kostenloser Kinderbetreuung, berufsbegleitender Weiterbildung und flexiblen Arbeitszeiten unterstützt werden.“

Außerdem gaben fast 20 Prozent der Befragten an, in ihrem Heimatland in Gesundheits- und Bildungsberufen, also reglementierten Branchen, tätig gewesen zu sein. Gerade in diesen Bereichen gebe es in Österreich einen hohen Bedarf an Fachkräften.

Noch hinkt die Erwerbstätigenquote unter ukrainischen Geflüchteten den Möglichkeiten deutlich hinterher. Was auch unter diesem in der Studie erwähnten Aspekt nachgebessert werden sollte: „Österreich könnte, angesichts der wachsenden ukrainischen Gemeinschaft und seines hohen gesellschaftlichen Kapitals, ein noch populäreres Ziel für ukrainische Geflüchtete und Migranten werden.“