Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler
APA/Robert Jaeger
Regierung im Wahljahr 2024

Endspurt mit „Gaspedal und Bremse“

Zum Jahresende rühmen ÖVP und Grüne ihre Regierungsbilanz: Man habe trotz der Krisen einen Großteil des Koalitionsprogramms abarbeiten können. Tatsächlich kann die Regierung vor der Schlusskurve viele Punkte abhaken. Einige „Leuchtturmprojekte“ verlagern sich in das kommende Wahlkampfjahr. Doch dort gelten andere Gesetze.

Als „das Beste aus beiden Welten“ beschrieb Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) das Regierungsprogramm im Jänner 2020. Nach vier Jahren biegen die Koalitionäre in ihr letztes Jahr ein. Planmäßig soll im Herbst der Nationalrat neu gewählt werden. Dementsprechend bleiben noch wenige Monate, um die angekündigten Vorhaben umzusetzen. Bei der Abschaffung des Amtsgeheimnisses ist man sich einig, beim weiterhin aufgeschobenen Klimaschutzgesetz nicht. Ob der Bundesstaatsanwalt kommt, ist ebenso fraglich wie das automatische Pensionssplitting.

Die große Frage lautet daher: Wie wirkt sich der Wahlkampf auf diese Vorhaben aus? Politikberater Thomas Hofer zieht im ORF.at-Gespräch einen Vergleich mit einem Rallyefahrer, der fast gleichzeitig „auf dem Gaspedal und auf der Bremse“ steht. „Die Koalition wird nicht mehr mit demselben Tempo unterwegs sein, sondern dort bremsen, wo es der eigenen Partei schadet“, sagt Hofer. Insbesondere bei den „scheinbar ideologischen Themen“ wie Migration und Klimaschutz werden die Parteien von ihren Positionen „keinen Millimeter“ abrücken.

Politikwissenschaftler Peter Filzmaier sieht es ähnlich. Im kommenden Jahr werden die „Schlüsselvorhaben“ zwar Thema sein, „aber alle potenziellen Schritte, auch jene, die wir jetzt noch nicht kennen, werden von dem Gedanken getragen: Wem nutzt das Vorhaben oder der Beschluss mehr?“, sagt Filzmaier zu ORF.at. In der Theorie sollte die Regierung eigentlich so viel wie möglich im Konsens beschließen, in der Praxis sei das aber schwierig, besonders im Wahlkampf.

„Politik der guten Tat“ auch im Wahlkampf

Die vergangenen vier Jahre waren von Krisen geprägt. Die Koalition hat zum Teil mit Stimmen der Opposition zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie und der hohen Inflation zig Beschlüsse gefasst. Zuletzt hatten ÖVP und Grüne die Mietpreisbremse beschlossen, gleichzeitig teilten Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) mit, dass die Strompreisbremse verlängert wird. Politikberater Hofer vermutet, dass die „Politik der guten Tat“ fortgesetzt wird, um zu zeigen: „Wir sind handlungsfähig und wir arbeiten bis zum Schluss.“

In den Umfragen hat sich die „Politik der guten Tat“, wie Hofer die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung nennt, nicht niedergeschlagen. Die FPÖ führt laut Sonntagsfrage deutlich vor der SPÖ und der ÖVP. Auch die Grünen liegen hinter ihrem Ergebnis von 2019. In der „Presse“ erklärte ÖVP-Klubchef August Wöginger das Umfragetief gerade wegen der Vielzahl der Maßnahmen: „Ich glaube, wir haben so viel gemacht, dass die Menschen es gar nicht mehr fassen können.“

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Die neu angelobte österreichische Bundesregierung im Jänner 2020
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Die ÖVP-Grünen-Regierung startete im Jänner 2020 mit diesen Personen …
Die österreichische Bundesregierung im Jänner 2023
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… und geht nun mit vielen personellen Änderungen in den Endspurt

Viele Maßnahmen waren krisenbedingt, also quasi unvermeidbar, auch wenn man über die Art und Weise der Antiteuerungshilfen und der CoV-Beschränkungen diskutieren kann. Dennoch konnte die Regierung „Leuchtturmprojekte“ wie die ökosoziale Steuerreform, die Reform des Korruptionsstrafrechts und das Klimaticket umsetzen. Dass die Reform des Arbeitslosengeldes scheiterte, war für die ÖVP ein herber Rückschlag. Das nicht beschlossene Klimaschutzgesetz hingegen nagt an den Grünen und deren Basis.

Die Mischung macht’s

Filzmaier rechnet im Wahljahr mit einer stärkeren Positionierung von ÖVP und Grünen. Ein gemeinsames Interesse im Regierungsfinale sei wegen der Umfragewerte „endenwollend“, betont der Experte. Diese Regierung werde nach der Wahl „zu 99 Prozent“ nicht fortgeführt. Sie werde über Projekte debattieren, die seit Monaten in der Schublade liegen. Im Mittelpunkt würden aber eher weitere Maßnahmen gegen die Teuerung stehen. „Das hat neben dem Faktum, dass die Preise höher sind, auch den Grund, dass die Teuerung im Jahr 2023 in Umfragen als das meistdiskutierte Thema genannt wurde.“

Grafik zu Umfragewerten seit der Nationalratswahl 2019
Grafik: ORF; Quelle: APA

Dementsprechend erwartet Politikberater Hofer, dass die Regierung eine „Klausur oder Ähnliches“ veranstalten wird, ein „Arbeitsprogramm für 2024“ wäre auch möglich. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass gar nichts mehr weitergeht. Klar sei aber auch, dass die ÖVP den Grünen bei ihren Themen Klima und Transparenz keine großen Erfolge gönnen wird. Die ÖVP werde nicht den Anschein riskieren, sich durch den kleinen Koalitionspartner vorführen zu lassen. „Es ist klar, dass die ÖVP fürchtet, sie könnte Wähler an die FPÖ verlieren“, sagt Hofer.

Tatsächlich hatte die ÖVP zuletzt die Gangart verschärft. Besonders im Sommer ging man mit Themen hausieren, die für gewöhnlich der FPÖ zugeordnet werden. Doch mittlerweile sind die Debatten über Bargeld und „Normalität“ wieder abgeflaut. Ende Jänner will Nehammer den ÖVP-„Zukunftsplan“ präsentieren. Berichten zufolge soll Migration zur tragenden Säule werden. 2017 hatte es Kurz mit einer restriktiven Migrationslinie geschafft, im Wählerteich der FPÖ zu fischen. Die Stimmen seien aber wieder auf dem blauen Konto, so Hofer.

Narrativ der „Stabilität“

Von diesem politischen Dilemma, wonach sich die Regierungsparteien stärker voneinander distanzieren, gleichzeitig aber noch symbolisch Handlungsfähigkeit zeigen müssen, profitiert die Opposition. Zum einen kann sie wegen der andauernden Krisen der Koalition vorwerfen, dass sie zu wenig tut. Zum anderen können SPÖ, FPÖ und NEOS über einen Stillstand klagen, sollten sich ÖVP und Grüne nicht einigen können. „In den vergangenen Jahren mussten beide Parteien viele Federn lassen“, sagt Politikwissenschaftler Filzmaier.

FPÖ-Chef Herbert Kickl
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Die FPÖ unter Herbert Kickl treibt die Regierungsparteien aktuell vor sich her

Zuletzt waren sich ÖVP und Grüne uneins, als es um fix und variabel verzinste Kredite ging. Auch der Lobautunnel, die Pendlerpauschale und der Klimaaktivismus hatten die Differenzen zwischen den zwei Regierungsparteien aufgezeigt. „Der Opposition liefert die Regierung genügend Angriffsfläche“, befindet Hofer. Eine Koalition könne es nie allen recht machen, besonders nicht in Zeiten mannigfaltiger Krisen.

Trotz allem dürfe man nicht vergessen, dass die ÖVP-Grüne-Koalition die erste seit der ersten SPÖ-ÖVP-Regierung unter Werner Faymann (SPÖ) ist, die die regulären fünf Jahre Legislaturperiode durchhalten könnte. Die Regierung werde das Narrativ der „Stabilität“ hochhalten. Wie stabil die Koalition am Ende ist, wird sich erst zeigen.

Politologe Filzmaiers Ausblick auf 2024

Politikwissenschafter Peter Filzmaier kommentiert die innenpolitischen Aufreger des Jahres 2023 und wagt einen Ausblick auf das Superwahljahr 2024.

Filzmaier erinnert an das „freie Spiel der Kräfte“ vor der Nationalratswahl 2008. Damals stimmten in der letzten Sitzung vor dem Urnengang die Klubs mit wechselnden Mehrheiten über zwei Dutzend Anträge ab, darunter „milliardenteure Wahlgeschenke“, wie Filzmaier sagt. „Keine Partei wollte es sich mit den unterschiedlichen Wählergruppen verscherzen. Doch die Parteien sagten auch nicht, wie das alles gegenfinanziert werden soll, außer mit ‚Reformen in der Verwaltung‘.“