Wolodymyr Selenskyj
AP/Efrem Lukatsky
„Heikle Frage“ in Ukraine

Militär fordert 500.000 weitere Soldaten

Das ukrainische Militär fordert nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj die Mobilisierung von 450.000 bis 500.000 zusätzlichen Soldaten. Militärs und Regierungsvertreter würden diese heikle Frage erörtern, sagte Selenskyj auf einer Pressekonferenz in Kiew. Das Parlament werde sich dann damit befassen. Eine endgültige Entscheidung sei aber noch nicht gefallen.

Eine Mobilisierung in einem solchen Umfang würde zusätzliche Finanzmittel erfordern. Für die Ukraine ist die Mobilisierung neuer Soldaten nach Worten von Selenskyj eine teure und politisch heikle Frage. „Die Frage der Mobilisierung ist eine sehr sensible“, sagte der ukrainische Präsident am Dienstag bei der Pressekonferenz zum Jahresabschluss in Kiew.

Er brauche noch „mehr Argumente, um diese Idee zu unterstützen“, fuhr Selenskyj fort. Eine zusätzliche Mobilmachung in dem Umfang der angeforderten 450.000 bis 500.000 neuen Soldaten erfordere etwa 500 Milliarden Hrywnja (12,2 Mrd. Euro). Für ihn sei es zudem wichtig, wer von den bisher kämpfenden Soldaten dann ein Recht auf Erholung und Heimaturlaub bekomme. Es werde ein komplexer Plan für diese Rotation ausgearbeitet.

Neue Patriot-Luftabwehrsysteme angekündigt

Zudem kündigte der Staatschef an, dass die Ukraine mehr Patriot-Luftabwehrsysteme erhalten werde. „Mehrere neue Patriot-Systeme werden in der Ukraine sein, um unser Land im Winter zu schützen“, sagte Selenskyj. Er habe versprochen, die Anzahl nicht zu verraten, gab er an. Er sagte aber, die Waffenlieferungen seien ein „sehr wichtiges Ergebnis“ seiner jüngsten Reisen in das Ausland.

Wolodymyr Selenskyj
AP/Efrem Lukatsky
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während seiner Pressekonferenz zum Jahresabschluss in Kiew

Zudem kündigte Selenskyj für das kommende Jahr die Produktion von einer Million Drohnen an. Im Krieg gegen Russland setze sein Land auf moderne Waffen aus eigener Herstellung: „Unsere Soldaten werden in ihren Einheiten Drohnen aus ukrainischer Produktion erhalten.“ Sowohl Kiew als auch Moskau setzen Drohnen in großem Umfang ein, um feindliche Stellungen auszukundschaften, Sprengstoff abzuwerfen und Ziele anzugreifen.

Selenskyj war zuletzt in mehreren westlichen Ländern unterwegs, darunter in den USA, um für weitere militärische und politische Unterstützung für die Ukraine zu werben. Kiew fordert derzeit zusätzliche Waffenlieferungen von seinen westlichen Verbündeten, die sich jedoch zunehmend zurückhaltend zeigen. Nach Angaben des in den USA angesiedelten Thinktanks Institut for the Study of War (ISW) ist die Ukraine bereits gezwungen, Munition zu rationieren.

Großbritannien und Frankreich sichern Unterstützung zu

Ungeachtet der aktuell stockenden westlichen Hilfen zeigte sich Selenskyj zuversichtlich, dass sowohl die USA als auch die EU sein Land künftig weiter unterstützen werden. „Ich bin überzeugt davon, dass die USA uns nicht verraten werden“, sagte Selenskyj in Kiew. Auch mit Blick auf ein derzeit von Ungarn blockiertes EU-Finanzpaket in Höhe von 50 Milliarden Euro zeigte sich der Staatschef optimistisch: „Es werden sich Mittel finden, diese 50 Milliarden zu erhalten.“

Der britische Außenminister David Cameron sicherte der Ukraine am Dienstag bei einem Treffen mit seiner französischen Kollegin Catherine Colonna die fortgesetzte Unterstützung von Großbritannien und Frankreich zu. London und Paris seien bisher „starke Unterstützer“ der Ukraine gewesen und würden das „auch weiterhin sein“, sagte Cameron. Beide Länder würden die Ukraine „so lange wie nötig“ unterstützen. Es sei „entscheidend, dass Putin (Wladimir, Anm.) den Krieg verliert“.

UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk beklagte eine zunehmende Kriegsmüdigkeit der internationalen Gemeinschaft beim Ukraine-Krieg. „Die Aufmerksamkeit der Welt scheint von den zahlreichen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, abgestumpft zu sein“, sagte Türk vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf. Türk prangerte in diesem Zusammenhang erneut von Russland in der Ukraine begangene „eklatante Verletzungen der internationalen Menschenrechte und schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“ an.

Putin mit Kriegsverlauf zufrieden

Der russische Präsident Wladimir Putin sagte unterdessen am Dienstag in Moskau, die Initiative liege derzeit bei seinen Truppen. Vor Vertretern seines Verteidigungsministeriums zeigte er sich mit dem Kriegsverlauf zufrieden. Dem Westen sei es nicht gelungen, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen.

Das Ziel sei zerschmettert worden durch die „wachsende Kraft unserer Streitkräfte und Rüstungsproduktion“, sagte Putin. Beim Krieg gegen die Ukraine „kann man mit Überzeugung sagen, dass die Initiative aufseiten unserer Streitkräfte liegt“, behauptete der Kreml-Chef. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte bei der Sitzung in Moskau, die Zahl der Freiwilligen werde im kommenden Jahr um mehr als 250.000 auf rund 745.000 Vertragssoldaten steigen.

Putin warf zudem einmal mehr den USA vor, den Konflikt in der Ukraine bis zu einem Krieg getrieben zu haben, ohne das entsprechend zu belegen. Es sei dem Westen stets nur darum gegangen, das Land als Instrument zur Zerstörung Russlands zu benutzen, behauptete er. Zugleich räumte er ein, dass der Krieg gegen die Ukraine Probleme in der russischen Verteidigung aufgezeigt habe. Unmittelbar vor Putins Auftritt schoss die russische Flugabwehr nach Militärangaben im Moskauer Gebiet eine ukrainische Drohne ab.

„Komplizierte“ Lage bei Kämpfen in Region Charkiw

Russland habe 2023 keines seiner Kriegsziele in der Ukraine erreicht, sagte hingegen Selenskyj. Moskau habe das ukrainische Gebiet Donezk nicht komplett erobern können. Stattdessen habe die Ukraine die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer weitgehend wiederhergestellt. Die Ukraine wehrt seit Februar 2022 eine großangelegte russische Invasion ab.

Zur russischen Offensive in der Region Charkiw hatte die ukrainische Armee zuvor am Dienstag eingeräumt, dass die Lage für sie in dem Gebiet im Nordosten des Landes „kompliziert“ sei. Die russischen Truppen seien in der Region um die Stadt Kupjansk bei Waffen und Personal „überlegen“, erklärte Olexandr Syrskyj, der Kommandant des ukrainischen Heeres, auf Telegram. „Die Situation ist kompliziert“, gestand er ein. Die ukrainischen Truppen hielten aber ihre Stellungen.