Wirecard-Zentrale
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Kein Ende in Sicht

Wirecard-Aufarbeitung als Großbaustelle

Der Prozess zum mutmaßlichen Milliardenbetrugsfall Wirecard wächst Aktenberg um Aktenberg. Weit gestreut sind nicht nur die Tatorte, mannigfaltig sind auch die Forderungen in dem verworrenen Fall. Die Schlammschlacht aller gegen alle im Münchner Prozess wird daher nach einem Jahr – vorerst – um ein weiteres Jahr verlängert.

Die vierte Strafkammer des Landgerichts München I legte 86 weitere Verhandlungstage bis zum 19. Dezember 2024 fest, wie am Mittwoch bekanntwurde. Der Prozess gegen den früheren Vorstandschef Markus Braun, den Kronzeugen Oliver Bellenhaus und den ehemaligen Chefbuchhalter Stephan von Erffa geht bereits seit Ende 2022. Ursprünglich hatte die Kammer hundert Verhandlungstermine angesetzt, deren letzter schon der 10. Jänner gewesen wäre.

Wirecard war im Sommer 2020 zusammengebrochen, nachdem die Wirtschaftsprüfer 1,9 Milliarden Euro nicht ausfindig machen konnten, die in der Bilanz verbucht werden sollten. Die Anklage geht davon aus, dass das Geld nie existierte.

Braun und andere sollen als kriminelle Bande Scheingeschäfte vorgetäuscht haben, um den eigentlich defizitären Konzern über Wasser zu halten. Dafür sollen Umsätze in Milliardenhöhe erfunden, Bilanzen gefälscht und Kreditgeber um über drei Milliarden Euro geprellt worden sein. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.

Markus Braun im Gerichtssaal
Reuters/Fabrizio Bensch
Braun sitzt seit fast dreieinhalb Jahren in U-Haft

„Hatte keinerlei Kenntnisse“

Der österreichische Wirtschaftsinformatiker Braun wurde vor fast dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft genommen. Er sieht sich als unschuldigen Sündenbock an. Die wahren Kriminellen sieht Braun um den untergetauchten Ex-Vertriebsvorstand Jan Marsalek, so wie Braun ein Wiener, und den Kronzeugen Bellenhaus. Diese, so die Verteidigung, sollen Unsummen auf die Seite geschafft haben. „Ich hatte keinerlei Kenntnisse von Fälschungen oder Veruntreuungen“, sagte Braun bei seiner ersten Einvernahme vor Gericht im Februar.

Aufstieg mit Porno und schockierender Fall

Braun arbeitete seit Anfang der Nullerjahre bei Wirecard. Das damals noch kleine Unternehmen verdiente sein Geld hauptsächlich mit Gebühren bei Kreditkartenzahlungen für Pornografie und Glücksspiel im Netz. Braun wandelte Wirecard in einen börsennotierten Konzern um, Höhepunkt des kometenhaften Aufstiegs als deutsches Technologiewunder war 2018 die Aufnahme in die DAX-Oberliga der Frankfurter Börse. Dort war Wirecard zeitweise über 20 Milliarden Euro wert.

Der Tag des Zusammenbruchs von Wirecard sei „ein echtes Schockerlebnis“ gewesen, so Braun. Nachdem die 1,9 Milliarden verschwunden waren, folgte die Insolvenz. Braun kam in U-Haft und verlor auch nahezu sein gesamtes Vermögen, das er zum allergrößten Teil in Wirecard-Aktien angelegt hatte.

Die britische „Financial Times“ („FT“) hatte die Bilanzmanipulationen in jahrelanger Recherche aufgedeckt. Der „FT“-Journalist Dan McCrum arbeitete die Recherchen im Buch „House of Wirecard“ auf und schilderte darin auch, wie er durch Wirecard-Leute auf falsche Fährten geschickt und auch bedroht wurde.

Kronzeuge belastet Braun schwer – und umgekehrt

Bellenhaus war früher für die Geschäfte Wirecards in Dubai zuständig und ist nun Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Braun und Bellenhaus beschuldigen einander: Brauns Verteidiger bestritten in dem Prozess die Vorwürfe. Das vermisste Geld soll ohne Brauns Wissen von Bellenhaus und anderen Kriminellen im Unternehmen auf die Seite geschafft worden sein. Braun belastete auch Marsalek, die Vorwürfe hätten dessen Zuständigkeitsbereich betroffen. Bellenhaus zufolge war wiederum Braun der alles dominierende Chef, der in den Milliardenbetrug voll eingebunden gewesen sei und alles gewusst habe.

BKA-Fahndungsfoto von Jan Marsalek in Deutschland am 14.08.2020
IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Marsalek floh aus Österreich. Derzeit wird er in Dubai vermutet.

Von Bad Vöslau nach Belarus, Russland, Dubai

Marsalek war im Strudel des Zusammenbruchs des DAX-Konzerns 2020 geflohen. Mit Hilfe des früheren FPÖ-Nationalratsabgeordneten Thomas Schellenbacher und eines Vertrauten aus dem damaligen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) wurde ein Jet auf dem Flughafen Bad Vöslau organisiert, mit dem sich Marsalek nach Minsk absetzte. Das geschah wenige Tage, bevor der Haftbefehl gegen Marsalek ausgesprochen wurde.

Später wurde Marsalek in Russland vermutet, derzeit gehen einige Quellen von Dubai als Aufenthaltsort aus. Im September wurde bekannt, dass Marsalek von britischen Ermittlern verdächtigt wird, Teil eines Spionagenetzwerks für Russland gewesen zu sein. In Großbritannien soll er von Russland aus einen Agentenring finanziert und angeleitet haben.

Wirecard-Prozess doppelt so lange wie erwartet

Vor über drei Jahren ist der Finanzdienstleister Wirecard zusammengebrochen. Fast zwei Milliarden Euro waren plötzlich nicht mehr auffindbar. Der Prozess um den mutmaßlichen Betrug geht noch immer – und zwar doppelt so lange wie geplant.

Alle wollen Geld

Wo das Wirecard-Geld geblieben ist, dazu konnte noch kein Prozesszeuge Licht ins Dunkel bringen. Immer noch ist ungeklärt, ob die vermissten 1,9 Milliarden Euro je existierten – und falls ja, wo sie landeten. Stattdessen häufen sich die Forderungen. Die Gläubiger haben nach der Pleite Milliardenforderungen angemeldet.

Zudem will der Wirecard-Insolvenzverwalter von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY rund eineinhalb Milliarden Euro Schadenersatz. Im Dezember wurde am Landgericht Stuttgart Klage eingereicht. EY hatte jahrelang die Bilanzen des Konzerns testiert – nun wird den Prüfern systematisches Versagen bei der Prüfung der Jahres- und Konzernabschlüsse vorgeworfen.

Oliver Bellenhaus im Gerichtssaal
APA/AFP/Christof Stache
Kronzeuge Oliver Bellenhaus

Der Insolvenzverwalter klagte auch die US-Investmentbank Citi auf 140 Millionen Euro. Sie hatte wenige Monate vor der Insolvenz einen Aktienrückkauf für Wirecard abgewickelt. Auch der ehemalige Finanzvorstand Burkhard Ley soll Geld an den Insolvenzverwalter zurückzahlen, hier geht es um 815.000 Euro, die Ley 2020 von Wirecard bekommen habe, obwohl sein Beratervertrag Ende 2019 ausgelaufen sei. Die Staatsanwaltschaft München hatte Mitte Dezember Anklage gegen Ley erhoben. Sie wirft ihm unter anderem Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Betrug und Untreue vor.

Zeugen gaben sich unwissend

Nicht nur die verworrenen Geldforderungen komplizieren den Prozess. Die Aufklärung gestaltet sich auch deswegen so schwierig, weil sich die Tatorte großenteils in Asien befinden: in Dubai, Singapur, auf den Philippinen und in weiteren asiatischen Ländern. Das Gericht hatte in den vergangenen Monaten zahlreiche Zeugen aus dem Ausland geladen, die jedoch nicht erschienen.

Ausgesagt haben bisher hauptsächlich frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der einstigen Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München. Brauns Ex-Untergebene sagten jedoch durch die Bank aus, nichts vom Milliardenbetrug gewusst zu haben.