Israelische Soldaten in Gaza
Reuters/Israel Defense Forces
Israel vs. Hamas

Neue Phase in Gaza-Krieg

Israel tritt im Krieg gegen die Terrororganisation Hamas nach deren Überfall am 7. Oktober in eine neue Phase ein. Was sich bereits seit Tagen abzeichnete, bestätigte Donnerstagabend Verteidigungsminister Joav Galant. Israel fehlt aber weiter eine Strategie für den „Tag danach“ – hier eröffnete Galant nun öffentlich die Debatte.

Zuletzt wurde erstmals eine größere Zahl in Gaza kämpfender Milizsoldaten – Tausende – nach Hause entlassen. Das wurde durch eine geänderte militärische Taktik möglich, die Galant am Donnerstag bestätigte: Im Norden des Gazastreifens werde nun gezielter vorgegangen. Konkret bedeutet das vor allem Kommandoaktionen, gezielte Luftangriffe auf Hamas-Stellungen und die Zerstörung von Tunnelanlagen – und weniger eine breite militärische Präsenz mit Panzern und anderem schweren Gerät. Im Süden werde dagegen weiter die Führung der Hamas verfolgt.

Zugleich begann die Armee, ihre Aufmerksamkeit mehr in Richtung Norden und der Gefahr durch die proiranische Hisbollah zu verlagern. Die Tötung des hochrangigen Hamas-Politbüromitglieds Saleh al-Aruri am Dienstag mitten in einem von der Terrorgruppe Hisbollah beherrschten Viertel der libanesischen Hauptstadt Beirut war die erste derartige Attacke auf Hamas-Funktionäre außerhalb von Gaza und dem Westjordanland.

Langer Atem für Jagd auf Verantwortliche

Auch wenn Israel sich in langjähriger Tradition nicht offiziell dazu bekennt, sprechen alle Anzeichen dafür, dass Militär und Geheimdienste des Landes hinter der Tötung Aruris stehen, der am Donnerstag im Flüchtlingslager Schatila bestattet wurde.

Israels Regierung hatte kurz nach dem Hamas-Überfall mit rund 1.200 Toten und Hunderten Entführten angekündigt, alle Hamas-Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ähnlich wie nach dem Anschlag während der Olympischen Spiele in München auf die israelische Mannschaft im September 1973 bleiben diese gegebenenfalls auch jahrzehntelang im Visier des Mossad.

Erste Schritte zu Rückkehr Abgesiedelter

Unmittelbarer dürften die Folgen für die allgemeine Entwicklung im Nahen Osten sein: Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah kündigte eine scharfe Reaktion an – zumindest in Israel überwiegt bei Fachleuten aber die Einschätzung, dass die Hisbollah eine Eskalation der derzeitigen täglichen Schlagabtäusche vermeiden will. Klar ist, dass die Hisbollah jetzt oder später einen überraschenden Schlag gegen Israel – ob an der Grenze oder anderswo – versuchen wird.

Israelischer Panzer an der Grenze zum Libanon
picturedesk.com/Jalaa Marey
Israelischer Panzer an der Grenze zum Libanon

Dass seit Monaten Zehntausende Israelis, die an der Grenze wohnen, aus Sicherheitsgründen abgesiedelt werden mussten, war und ist aber bereits ein enormer Erfolg für Nasrallah. Genau das möchte Israel nun offenbar langsam ändern. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu pochte am Donnerstag auf eine „grundlegende Änderung“.

Armeechef Herzi Halevi kündigte zuvor am Mittwoch einen umfassenden Plan zur Sicherung der grenznahen Orte und eine mindestens für ein Jahr stark erhöhte Präsenz der Armee an. Die Grenzorte befinden sich innerhalb des Schussradius der Hisbollah, und jede Bewegung von Zivilisten kann von den Kämpfern oft mit freiem Auge beobachtet werden. Galant betonte im Gespräch mit dem US-Vermittler Amos Hochstein, Israel bevorzuge eine diplomatische Lösung. Galant machte aber klar, dass er am Zustandekommen einer solchen zweifelt.

Israel sieht sich als Bollwerk gegen den Iran

Aus israelischer Sicht wird auch für die westlichen Alliierten immer deutlicher, wie sehr die Aggression gegen Israel vom Erzfeind Iran gesteuert wird. Teheran habe alle seine Verbündeten – Hamas, Hisbollah und die Huthi-Rebellen im Jemen – aktiviert. Und iranische Warnungen bzw. Drohungen würden sich immer gegen die USA und Israel gemeinsam richten. Das soll Israels Auseinandersetzung mit der Hamas und den Palästinensern insgesamt in einen weiteren Kontext stellen, der in Europa und den USA auf mehr Verständnis stößt. Israel stellt sich verstärkt als Bollwerk für den Westen – und arabische Staaten – gegen die islamistische Gefahr dar.

ORF-Analysen aus Beirut und Tel Aviv

ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary meldet sich aus Beirut und Tim Cupal berichtet aus Tel Aviv. El-Gawahry spricht über die Hisbollah, die nach dem Anschlag im Libanon mit Vergeltung droht, und Cupal spricht über den weiteren Konfliktherd für Israel.

Von Zielerreichung „weit entfernt“

Auch der frühere Vizesicherheitsberater Israels, Chuck Freilich, betonte in einer Debatte beim israelischen Thinktank Institut für Nationale Sicherheit (INSS), man sei „weit entfernt“ davon, die Zerstörung der Hamas oder die Rückführung aller Geiseln – mehr als 130 befinden sich weiter in den Händen der Hamas – zu erreichen. Auch aufgrund von Druck der US-Regierung sei die Armee nun dabei, „in Phase drei“ überzugehen.

Kritik an Galant-Vorstoß

Zugleich konnte sich Israels Regierung bisher nicht darauf verständigen, wie sie sich den „Tag danach“ – nach weitgehender Einstellung der Kampfhandlungen – vorstellt. Die Regierung lehnt die von den USA favorisierte Variante mit einer reformierten Palästinensischen Autonomiebehörde bisher vehement ab.

Nach wochenlanger Zurückhaltung und anhaltendem Widerstand des Regierungschefs Netanjahu startete Galant nun Donnerstagabend öffentlich die Debatte über den „Tag danach“. Israel werde keine zivile Präsenz in Gaza haben, die Verwaltung werde von „palästinensischen Körperschaften“ übernommen werden – freilich ohne zu sagen, ob er damit die Palästinensische Autonomiebehörde meint. Die rechtsextremen Teile der Koalition, die eine dauerhafte Besetzung und Siedlungen in Gaza bis hin zur Vertreibung der Palästinenser fordern, kritisierten Galant umgehend scharf.

Zeit für Entscheidung wird knapp

Die Zeit für Israels Regierung wird knapp: Israel braucht einen mit den USA abgestimmten Plan für die Zeit danach. In der Koalition ist aber eine Einigung schwer vorstellbar. Dass Netanjahu die beiden rechtsextremen Parteien rauswirft, scheint ebenso undenkbar. Er ist mittlerweile so abhängig von ihnen wie in seiner langen Karriere von keiner anderen Partei.

Der US-Druck wird wegen des dort anstehenden Wahlkampfs – US-Präsident Joe Biden will nicht, dass der Gaza-Krieg ein größeres Thema wird – aber in den nächsten Wochen deutlich steigen. Es ist kein Zufall, dass US-Außenminister Antony Blinken am Freitag erneut zu Gesprächen anreist. Besonders dramatisch ist, dass all diese Umstände die Aussichten auf einen Deal zur Rückholung der mehr als 130 Geiseln in immer weitere Ferne rücken lassen.