EU-Ratspräsident Charles Michel
AP/Virginia Mayo
Antritt bei EU-Wahl

Michel stellt Rat vor prekäre Aufgabe

Der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, hat angekündigt, für die Wahl zum EU-Parlament im Juni zu kandidieren. Mit der Angelobung des neuen Parlaments im Juli will Michel sein bisheriges Amt des Ratspräsidenten vorzeitig zurücklegen. Der Rat muss sich damit schneller als geplant um eine Nachfolge für Michel bemühen – auch um ein Szenario zu verhindern, das den meisten EU-Staats- und -Regierungschefs Bauchweh bereiten dürfte.

„Ich habe beschlossen, bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 zu kandidieren“, sagte er am Sonntag belgischen Zeitungen. Er werde sein Amt als Ratspräsident noch fortsetzen, „bis ich am 16. Juli als Mitglied des Europäischen Parlaments vereidigt werde“, so der belgische Politiker.

Michel tritt den Medien zufolge an der Spitze der französischsprachigen liberalen Partei Mouvement Reformateur (MR) an. Vier Jahre nach Beginn seiner Amtszeit als EU-Ratspräsident sei es seine „Verantwortung, sowohl Rechenschaft über die Arbeit der vergangenen Jahre abzulegen als auch ein Projekt für die Zukunft Europas voranzutreiben“, begründete der 48-Jährige seine Entscheidung.

Druck auf Staats- und Regierungschefs

Für die EU-Staats- und -Regierungschef, derem Gremium Michel bisher als Präsident vorsaß, kommt seine Entscheidung augenscheinlich ungelegen. Sie müssen sich jetzt deutlich schneller als gedacht auf einen neuen Präsidenten einigen. Eigentlich wäre Michels Mandat noch bis Ende November gelaufen.

Michels Schritt erhöhe den Druck auf die Staats- und Regierungschefs, schrieb das Politikportal Politico. Sollten die Vertreterinnen und Vertreter der EU-Staaten bis zum Abgang Michels keinen Nachfolger gefunden haben, sehen die EU-Regeln ein klares Prozedere vor.

Schreckgespenst Orban

Bis Ende November würde dann der Staats- bzw. Regierungschef des Mitgliedslandes, welches zu diesem Zeitpunkt den wechselnden Vorsitz im Europäischen Rat innehat, den Posten des Ratspräsidenten übernehmen. Das wäre nach derzeitigem Stand Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban – und damit der einzige EU-Regierungschef, der nach Russlands Einmarsch in die Ukraine weiter enge Verbindungen zum Kreml unterhält.

Der ungarische Premier Viktor Orban mit EU-Ratspräsident Charles Michel
Reuters/Yves Herman
Können sich die Staaten nicht auf einen Nachfolger für Michel einigen, würde Orban interimistisch übernehmen

Orban würde das während der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft einen übergroßen Einfluss verschaffen, schrieb Politico. Dieses Szenario würden die meisten der anderen 26 Staats- und Regierungschefs „unbedingt vermeiden“ wollen, so das Politikportal – eine naheliegende Einschätzung angesichts der fortlaufenden Spannungen zwischen Ungarn und der restlichen EU.

Laut Michel wurde für die Zeit unmittelbar nach der Europawahl ein Treffen des Europäischen Rats angesetzt. Zu diesem Zeitpunkt werde das Gremium der Staats- und Regierungschefs entscheiden müssen, wann sein Nachfolger das Amt antreten werden, erklärte Michel. Offen ließ der Belgier, ob er mit seinem Antreten bei der EU-Wahl auch Hoffnungen auf höhere Ämter verknüpft, wie Fraktionsführer der Liberalen im EU-Parlament oder gar ein Antreten als Nachfolger von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidenten.

Kritik auch aus liberalem Lager

Vonseiten der Staats- und Regierungschefs wurde Michels Ankündigung bisher noch nicht kommentiert. Erste Kritik an der Entscheidung des Belgiers wurde aber bereits laut – auch unter Liberalen. Die niederländische Europaabgeordnete Sophie in’t Veld von der liberalen Fraktion Renew Europe machte Michel auf dem Kurznachrichtendienst X (Twitter) Vorwürfe: „Der Kapitän verlässt das Schiff inmitten eines Sturms“, schrieb die Parlamentarierin. „Wenn Sie sich so wenig für das Schicksal der Europäischen Union engagieren, wie glaubwürdig sind Sie dann als Kandidat?“

Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, sagte am Sonntag, die Kandidatur von Michel dürfe nicht die europäischen Institutionen destabilisieren. Es müsse verhindert werden, dass infolge der Wahl Orban „in eine zentrale Rolle“ komme, so der CSU-Vize Weber bei der Klausur der CSU-Bundestagsabgeordneten im oberbayrischen Kloster Seeon.

Posten vor 15 Jahren eingerichtet

Der Belgier Michel hatte im Jahr 2019 die Nachfolge von Donald Tusk als EU-Ratspräsident angetreten. Der Posten des Ratspräsidenten wurde vor rund 15 Jahren mit dem Vertrag von Lissabon eingerichtet, um der EU mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Dem Amtsinhaber obliegt die Vorbereitung und Leitung der EU-Gipfel, zu denen sich die 27 Staats- und Regierungschefs in der Regel in Brüssel treffen.

Die Europawahl findet vom 6. bis 9. Juni statt. Bei der weltweit größten länderübergreifenden Wahl bestimmen mehr als 400 Millionen Wahlberechtigte aus 27 EU-Ländern die 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments für eine Amtszeit von fünf Jahren. Nach der Wahl werden auch die Spitzen der EU-Kommission und des Rates neu besetzt.