Wahlkampfveranstaltung in Taipei
APA/AFP/I-Hwa Cheng
Taiwan wählt

Enttäuschte Jugend könnte entscheiden

Mehr als 19 Millionen Menschen in Taiwan sind am Samstag aufgerufen, einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament zu wählen. Der Ausgang gilt als entscheidend für das künftige Verhältnis zwischen Taipeh und dem zunehmend aggressiv auftretenden Peking. Die besonders umworbenen jungen Wählerinnen und Wähler treiben aber auch Sorgen um die Lohnentwicklung und den Lebensstandard um – bei den beiden etablierten Parteien sehen sie ihre Anliegen nur bedingt wahrgenommen.

Die Haltung gegenüber China, das Taiwan als Teil seines Territoriums beansprucht und mit einer Unterwerfung droht, ist seit den ersten demokratischen Wahlen in den 1990er Jahren ein entscheidender Faktor bei Wahlen in der Inselrepublik. Nun, da Peking den militärischen, politischen und wirtschaftlichen Druck erhöht, um Taipeh in Richtung Wiedervereinigung zu drängen, machen die beiden stärksten Parteien ihre konkurrierenden Visionen zu einer Frage des Überlebens.

Amtsinhaberin Tsai Ing-wen darf nach zwei Amtszeiten als Präsidentin nicht mehr antreten. Ihre regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die für Unabhängigkeit Taiwans von China eintritt, schickt den bisherigen Vize Lai Ching-te ins Rennen. Die oppositionelle Kuomintang (KMT) und ihr Spitzenkandidat Hou Yu-ih sprechen sich dagegen gegen eine offene Unabhängigkeitserklärung und für eine Kooperation mit China aus.

Ko Wen-je
Reuters/Ann Wang
Ko Wen-je bietet sich bei der Wahl als politische Alternative an

Wurzeln des Konflikts

Der Konflikt um Taiwan geht auf den Bürgerkrieg in China zurück: Nach der Niederlage gegen die Kommunisten flüchtete die nationalchinesische Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan. Die Insel wurde seither eigenständig regiert, während in Peking 1949 die kommunistische Volksrepublik ausgerufen wurde. Obwohl die Kommunistische Partei Chinas Taiwan nie regiert hat, beansprucht sie das Gebiet und strebt eine – notfalls gewaltsame – „Wiedervereinigung“ an.

Frischer Wind durch früheren Chirurgen

Der große Unbekannte ist diesmal der frühere Chirurg Ko Wen-je, Vorsitzender der Volkspartei Taiwans (TPP) und langjähriger Bürgermeister Taipehs. Er selbst sieht seine Partei als „Mittelweg“ zwischen der DPP und der KMT in der China-Frage, tatsächlich steht seine Politik aber der KMT näher. Wie die „Financial Times“ („FT“) berichtete, hat sein gescheiterter Versuch, ein Bündnis mit der KMT zu schmieden – in der Hoffnung, dass eine vereinte Opposition die DPP ausschalten könnte –, Teile seiner Anhängerschaft desillusioniert.

Im Oktober sorgte Ko mit einem medizinischen Vergleich für Aufsehen. Er sagte, die Beziehungen zwischen Taiwan und China glichen einer Krankheit, die man besser sich selbst überlassen sollte. Patienten mit Prostatakrebs etwa könnten oft viele Jahre lang gut leben, während die Entfernung der Prostata „einen noch schnelleren Tod verursachen kann“. Die Metapher über die Wichtigkeit der Koexistenz mit seinen Feinden ging nach hinten los, es folgte breite Kritik.

Lai Ching-te
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Regierungskandidat Lai liegt in Umfragen zur Präsidentschaftswahl voran

Unzufriedenheit mit etablierten Parteien

Dennoch scheint Ko bei vielen jungen Wählerinnen und Wählern Umfragen zufolge hoch im Kurs zu stehen, ein gewichtiger Grund ist die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien und den festgefahrenen politischen Mustern. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission Taiwans machen die 20- bis 29-Jährigen in der rasch alternden Gesellschaft nur 16,2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung aus, doch Analysen zufolge könnten sie in einem knappen Rennen den Ausschlag geben. 2020 lag die Wahlbeteiligung in dieser Gruppe bei über 70 Prozent.

Obwohl die Inflation in Taiwan im Vergleich zu anderen Teilen der Welt niedrig ist – im November des Vorjahres lag sie bei 2,9 Prozent, im Jahresschnitt 2023 nur bei 2,1 Prozent –, sind Teile der Bevölkerung der Meinung, dass die Lebenshaltungskosten zu hoch sind. Mehr als ein Drittel gab laut „Guardian“ an, dass die wirtschaftliche Entwicklung das dringlichste Anliegen für den nächsten Präsidenten ist. Besonders stark treffen die Preissteigerungen junge Menschen mit entsprechend niedrigeren Gehältern.

Junge bangen um Lebensqualität

Die jüngsten Erhöhungen des Mindestlohns haben vielen Jungen, deren Gehalt darüber liegt, wenig geholfen. Das eigentliche Problem sei eine Arbeitskultur, in der häufig unbezahlte Überstunden erwartet würden, zitierte die „FT“ die 26-jährige Marketingangestellte Lin Ching. „In Wahlkampfzeiten reden sie ständig über die nationale Sicherheit und China. Sie erwecken den Eindruck, dass das wichtiger ist als die wirtschaftliche Entwicklung, und man weiß nicht, ob sie jemals etwas gegen all die anderen Probleme unternehmen werden.“

Angesichts ihres Misstrauens gegenüber den beiden großen Parteien plant die junge Frau nicht, für einen der Präsidentschaftskandidaten zu stimmen, sondern bei der Parlamentswahl Kos Partei zu stärken.

Frau jubelt auf Wahlevent
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Die Jungen könnten die Wahl entscheiden. Für sie sind die hohen Lebenskosten oft wichtiger als das Verhältnis zu China.

Frage des Diskurs

Wang Hong-zen, Professor für Politikwissenschaften an der Nationalen Cheng-Kung-Universität in Taiwan, sagte gegenüber Voice of America (VOA), Ko gewinne Erstwähler mit seiner modernen Art zu kommunizieren, etwa der Gründung eines Online-TV-Kanals. „Politiker müssen ihre traditionelle Öffentlichkeitsarbeit und ihren Diskurs über politische Meinungen durch neue Ansätze ergänzen", sagte er gegenüber VOA. „Wenn man die alten Methoden anwendet, wird man feststellen, dass sie nicht mehr funktionieren.“

Dass Ko mit seinem Ansatz genügend Unterstützung gewinnen kann, um Präsident zu werden, ist dennoch fraglich: Umfragen zufolge liegt die TPP hinter den beiden Establishment-Parteien nur auf Platz drei.