Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, Niederlande
IMAGO/Xinhua/Wang Xiangjiang
Südafrika vs. Israel

Genozidanhörung vor UNO-Gericht

Während der Krieg zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel weitergeht, wird dieser nun auch auf ganz anderer Ebene Thema: Am Donnerstag und Freitag findet vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine Anhörung zur Klage Südafrikas gegen Israel statt. Pretoria wirft Israel Völkermord in Gaza vor. Die Anhörung – es ist zum ersten Mal, dass Israel geklagt wurde – hat große politische Brisanz.

Südafrika hatte Israel Ende Dezember vor dem UNO-Gericht mit Sitz in Den Haag des Völkermords beschuldigt. Die Völkermordkonvention – so wie das Gericht selbst eine historische Lehre aus dem Holocaust an den Juden durch Nazi-Deutschland – ermöglicht es jedem Staat, den IGH bei Verdacht auf Genozid durch einen anderen Staat anzurufen.

Die 17 Richterinnen und Richter – das klagende und das beklagte Land kann jeweils einen zusätzlich zu den fixen 15 entsenden – sollen, so lautet Südafrikas Antrag, im Eilverfahren Israel zur Einstellung der Kampfhandlungen auffordern. Das Gericht hat anders als nationale Höchstgerichte keine Möglichkeit, seine Urteile auch durchzusetzen.

Voller Gerichtsaal des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
Reuters/Thilo Schmuelgen
Die Richterbank zu Beginn der Anhörung

Südafrika verurteilte die Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Israelis vom 7. Oktober. „Aber kein bewaffneter Angriff ist eine Rechtfertigung für die Verletzung der Völkermordkonvention“, sagte Justizminister Ronald Lamola bei der Anhörung. Er sprach von einer „Politik der Apartheid gegen Palästinenser seit etwa 76 Jahren“. In Den Haag fanden propalästinensische und proisraelische Demos statt.

Israel: Verkehrung der Tatsachen

Israel wies die Vorwürfe noch im Dezember, nach Einreichung der Klage durch Pretoria, scharf zurück und sprach von einer Verkehrung der Tatsachen, indem der Auslöser – der mit extremer Brutalität ausgeführte Überfall der Hamas auf Israel mit bis zu 1.200 Toten und etwa 240 Entführten – in Südafrikas Klage gar nicht erwähnt werde. Israel hat der Hamas den Krieg erklärt. Die hohe Zahl an getöteten und verwundeten Zivilisten im Gazastreifen erklärt es vor allem damit, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbrauche.

Zudem verweist Israel, das sich auf sein Selbstverteidigungsrecht beruft, darauf, sich an die internationalen Konventionen zu halten und der Zivilbevölkerung in Gaza etwa humanitäre Hilfe zu gewähren und vorab zu warnen, um Menschen die Flucht zu ermöglichen und entsprechende Korridore einzurichten.

Südafrikas Ziel ist einstweilige Verfügung

In der zweitägigen Anhörung geht es aber gar nicht um ein abschließendes Urteil. Eine solche Verurteilung ist auch höchst unwahrscheinlich, da die dafür zu erfüllenden und nachzuweisenden Voraussetzungen sehr hoch sind. Pretorias Ziel und Begehr ist vielmehr ein anderes: Der IGH soll eine Art einstweilige Verfügung erlassen, in der Israel zur Einstellung der Kampfhandlungen aufgefordert wird. Mit einer Entscheidung darüber wird rund ein, zwei Wochen nach der Anhörung gerechnet.

Eine solche Verfügung hätte, auch wenn Israel nicht zur Einstellung des Militäreinsatzes gezwungen werden kann, durchaus reale Folgen: Neben dem Imageschaden und einem wohl noch stärkeren internationalen Druck könnte Israel Probleme beim Einkauf von Rüstungsgütern bekommen. Denn viele westliche Länder haben die Auflage verankert, dass Waffen nicht an Länder, gegen die der IGH eine solche Verfügung erließ, geliefert werden dürfen.

Trauernde Frau hält totes Kind in Leichensack
Reuters/Saleh Salem
Palästinenserinnen trauern um ein bei einem israelischen Angriff getötetes Kind

Aussagen von rechten Ministern

Zwei Faktoren sind für die Feststellung eines Völkermords zentral: Zerstörung und Tötung von Zivilisten müssen „übermäßig“ sein, und es muss die Absicht, dass ein Land einen Völkermord begehen will, nachweisbar sein. Beim zweiten Faktor zitiert Südafrika zahlreiche Aussagen von rechten israelischen Politikern seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober.

Aus Sicht israelischer Fachleute zeigen diese vor allem das Ausmaß an mangelnder Professionalität in der derzeitigen rechts-religiösen Koalition. Israels Armee und Exekutive sind es seit Jahrzehnten gewohnt, immer auch die internationale Reaktion und mögliche rechtliche Implikationen zu bedenken.

Aussagen wie etwa die Drohung, eine Atombombe über Gaza abzuwerfen, oder zu einer neuen „Nakba“ („Katastrophe“, die arabische Bezeichnung für die Flucht und Vertreibung von großen Teilen der palästinensischen Bevölkerung 1948 aus den laut UNO-Teilungsplan für Israel vorgesehenen Gebieten, Anm.) könnten nun vor dem IGH zum Bumerang für Israel werden.

Stimmungsmache der „Giftschleuder“

Israels Öffentlichkeit ist nach den vielen Jahren der von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geführten Regierungen an provokante, den öffentlichen Diskurs vergiftende Aussagen längst gewöhnt und teils abgestumpft. Netanjahu-Kritiker sprechen seit Langem von einer gut geölten „Giftschleuder“-Maschine.

International werden die Aussagen von Regierungsvertretern freilich ernst genommen – selbst wenn klar ist, dass sie innenpolitisch keine Chance auf Umsetzung haben und vor allem als Provokation der Gegner und Stimmungsmache für die eigene Basis gemeint sind.

Zerstörtes Haus in Israel
APA/AFP/Jack Guez
Beim Angriff der Hamas am 7. Oktober zerstörte Häuser im Kibbuz Be’eri

Auch nicht bindende Aufforderung möglich

Israel hätte die Anhörung auch einfach ignorieren können. Mit der Entscheidung, sich der Auseinandersetzung zu stellen, will das Land offenbar die Gelegenheit nutzen, die eigene Sicht der Dinge darzulegen. Denn international sind die Verbrechen der Hamas angesichts des israelischen Einmarsches in Gaza mit 23.000 Toten (die Hamas-Angaben unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Hamas-Kämpfern, Anm.) mittlerweile in den Hintergrund gerückt.

Die Regierung entsendet dafür als Richter den Ex-Höchstrichter Aharon Barak. Dieser ist zwar ein prominenter Gegner des von der Regierung vorangetriebenen – vorerst aber gescheiterten – Justizumbaus. Doch sein hohes internationales Ansehen, die Tatsache, dass er Holocaust-Überlebender ist und dass es im Regierungslager keine ähnlich qualifizierte Person gibt, gaben dafür den Ausschlag.

Am Donnerstag trägt Südafrika seine Argumente vor, am Freitag ist Israel am Zug. Der ehemalige Leiter der internationalen Abteilung in Israels Generalstaatsanwaltschaft, Roi Scheindorf, betonte zuletzt im öffentlich-rechtlichen Sender Kan, er rechne damit, dass das Gericht keine einstweilige Verfügung erlässt. Dafür sei sie „zu übertrieben und weitreichend“ gefasst. Auch fehle jede Erwähnung der Hamas-Morde am 7. Oktober. Sehr wohl möglich sei aber, dass das Gericht Israel – rechtlich unverbindlich – auffordert, sich an die internationalen Konventionen zu halten.