Portrait von Vladimir Ilyich Lenin (ca. 1917)
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100. Todestag

Lenins Erbe für den Ukraine-Krieg

Vor exakt 100 Jahren ist Wladimir Iljitsch Uljanow – kurz Lenin – gestorben. Mit einem Putsch im Jahr 1917 (Oktoberrevolution) prägte der Anführer der kommunistischen Bolschewiken die Geschichte der Sowjetunion und damit auch jene des heutigen Russlands. Lenins Erbe gilt als aktuell – wirkt es doch bis in den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hinein.

Lenin wurde am 22. April 1870 im zentralrussischen Simbirsk (seit 1924 Uljanowsk) geboren. Wie viele Arbeiterführer der damaligen Zeit war er bürgerlicher Herkunft. Sein Vater war Beamter und stieg in den Adel auf, seine Mutter die Tochter eines Gutsbesitzers. Mit seinen „Berufsrevolutionären“ errichtete Lenin nach 1917 die vermeintliche „Diktatur des Proletariats“. Er starb im Jänner 1924, überlebte die Oktoberrevolution also gerade einmal um sechs Jahre, die Gründung der Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg nur um ein Jahr.

Historiker und Historikerinnen diskutieren heute noch über Lenin als autoritären Parteiführer, Diktator und Massenmörder. Doch in Russland lege sich aktuell der Mantel des Schweigens über Lenin. Denn dort sei man gerade dabei, angesichts des Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 alles zu tun, um Einigkeit zu demonstrieren, sagt der Professor für osteuropäische Geschichte an der Uni Wien, Wolfgang Mueller, im Gespräch mit ORF.at.

Russischer Präsident Wladimir Putin
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Wladimir Putin interpretiert die sowjetische Geschichte und spricht der Ukraine die Staatlichkeit ab

„Lenin gilt für die politische Spitze als kontroverse Persönlichkeit, die einem nationalen Konvent schaden könnte“, so der Experte. Während man 2017 auf den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution noch mit Spannung geblickt habe, hätte Russland den 100. Todestag von Lenin „wohl mit Absicht verschlafen“. Das liegt insbesondere an Präsident Wladimir Putin, der von Lenin bekanntlich wenig hält, aber den Angriff auf die Ukraine mit dessen Politik legitimierte.

Experte zu Putins Interpretation: „Irreführend“

Gut acht Monate vor Beginn des russischen Angriffskrieges hatte Putin einen Essay publiziert, in dem der Präsident die Einheit des russischen und ukrainischen Volkes betonte. Die Bolschewiki unter Lenin hätten „von einer Weltrevolution, die die Nationalstaaten auslöschen würde“ geträumt. Bei der Vergabe von „Territorialgeschenken“ seien sie zu großzügig gewesen, schrieb Putin. Lenin und seine Kameraden seien es gewesen, „die das Land in Stücke hackten“. Kurz vor dem Angriff 2022 wiederholte Putin, dass die Ukraine wegen Lenins Politik existiere.

Russland-Experte Mueller bezeichnet diese Darstellung der Geschichte als „stark verkürzt und irreführend“. Die Entstehung einer ukrainischen Sprache, Kultur und Identität gehe Jahrhunderte zurück. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 hätten sich die Ukrainer abwartend verhalten und anfangs nur Autonomie gefordert.

Portrait von Vladimir Ilyich Lenin (ca. 1910)
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Lenin wurde 1870 geboren und starb am 21. Jänner 1924

Lenin war aber dazu nicht bereit und gründete eine bolschewistische Gegenregierung in Charkiw. Nach ersten Kämpfen habe die Zentralna Rada in Kiew die Unabhängigkeit einer Ukrainischen Volksrepublik ausgerufen. Bis 1921 wurde die Ukraine aber von der Roten Armee erobert und 1922 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der neu gegründeten Sowjetunion. „Lenin wollte die Ukraine unter einer bolschewistischen Herrschaft.“

„Einwurzelungspolitik“ für Nichtrussen

Als Ersatz für das versprochene, aber nicht gewährte Selbstbestimmungsrecht bot Lenin den Nichtrussen eine kulturelle Autonomie, die „Korenisazija“ (deutsch Einwurzelung). „Lenin sah, dass die neue Sowjetunion schwach war und er den nichtrussischen Nationalitäten deshalb ein Angebot machen musste: Ihr bekennt euch zum Kommunismus und zur Sowjetunion, dafür erhaltet ihr kulturelle Autonomie“, so der Experte. Im Zuge der Einwurzelung seien die ukrainische Kultur und Sprache gefördert worden.

Die Diskussion über die Nationalitätenpolitik habe zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und dem späteren Sowjetdiktator Josef Stalin geführt. Letzterer initiierte nach Lenins Tod eine radikale Kehrtwendung. Zwar wurde die „Korenisazija“-Politik nie offiziell beendet, aber von einer Zentralisierung und Russifizierung verdrängt. „Stalin hat die Einwurzelungspolitik fast vollkommen zurückgenommen“, sagt Mueller. Er habe realisiert, dass die Förderung lokaler Eliten und Kultur die Zentralgewalt infrage stellen könnte.

Fallende Statuen

Trotz der kulturellen Autonomie, die Lenin den Ukrainerinnen und Ukrainern ab 1922 gewährt hatte, ist das ukrainische Verhältnis zum Sowjetführer alles andere als rosig. Denn auch auf dem damaligen Gebiet der heutigen Ukraine litten die Menschen an den Folgen der „Revolutionsherrschaft“, des „Bürgerkrieges“, der Hungersnot und des Terrors. Für Menschen habe sich Lenin nicht interessiert, sie seien „Knetmaterial“ der Revolution gewesen, sagte Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität zu Berlin gegenüber Ö1. „Lenin war davon überzeugt, dass er dazu ausersehen ist zu entscheiden, was die Massen wollen.“

Statue des russischen Diktators Wladimir Lenin
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2014 und 2015 wurden zig Lenin-Statuen in der Ukraine aus ihrer Verankerung gerissen

Für viele Ukrainer symbolisiert Lenin auch die Herrschaft Moskaus über die Ukraine. So wurden insbesondere im Zuge der Maidan-Proteste in den Jahren 2013 und 2014 Hunderte Lenin-Denkmäler gestürzt oder abgebaut. Meistens geschah der „Sturz“ friedlich, manchmal aber auch gewaltsam, so wie in Kiew, in Charkiw und Odessa. Im Frühjahr 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament mehrere Gesetze, mit denen Kommunismus und Faschismus für verbrecherisch erklärt wurden.

Auch in Henitschesk in der Südukraine wurde 2015 eine Lenin-Statue aus sowjetischer Zeit abmontiert. Nachdem Russen die Stadt im Zuge des Ukraine-Krieges erobert hatten, stellten sie eine neue Lenin-Statue auf. Experte Mueller sieht dafür mehrere Erklärungsansätze. "Ein Ansatz lautet, es handle sich um den Versuch, die Pensionisten, die an diese Denkmäler gewöhnt sind, zu gewinnen. Ein anderer lautet, es gehe darum, „Kulturmaßnahmen“ zu suggerieren. Mit Sicherheit wird es aber weniger um Lenin als Bolschewiken oder den fürchterlichen Diktator gehen als vielmehr um einen Machtanspruch. Russland will zeigen: „Wir sind wieder hier und bestimmen, wer verehrt wird.“