Zwar geht die Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR) mit dem Titel „A sharp right turn: A forecast for the 2024 European Parliament elections“ (dt.: „Scharfe Rechtskurve: Eine Prognose für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024“) davon aus, dass die EVP größte Fraktion bleiben und entsprechend die Agenda mitbestimmen werde. Doch populistische Stimmen würden viel präsenter und stärker in die Entscheidungsfindung einbezogen sein.
Die Studie sieht die Linke, aber vor allem die populistische Rechte als Hauptgewinner. Das Verschieben des Gleichgewichts im Parlament nach rechts hätte Folgen für zentrale Säulen der EU wie Fortschritte in der Klimapolitik sowie den „European Green Deal“, die weitere Unterstützung der Ukraine und die Zukunft der EU-Erweiterung, berichtete die Onlineplattform EUobserver. Auch beim Thema Migration wäre eine härtere Linie zu erwarten.
Prognosen: Rechtspopulisten in neun Ländern an Spitze
Das Studienautorenteam, darunter die führenden Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Simon Hix und Kevin Cunningham, stützte sich auf Meinungsumfragen und Modellrechnungen aus den 27 EU-Staaten. Demzufolge könnten in neun Mitgliedsstaaten, darunter Österreich, Frankreich und Polen, antieuropäische populistische Parteien an der Spitze stehen.
In Österreich würde demzufolge die FPÖ die Zahl ihrer Abgeordneten auf sechs verdoppeln. Für Marine Le Pens rechtspopulistischen Rassemblement National sei ein Rekord von 25 Sitzen im EU-Parlament möglich.
In weiteren neun Ländern wie Deutschland, Spanien, Portugal und Schweden würden sie den zweiten und dritten Platz belegen. Die Alternative für Deutschland (AfD) dürfte die Zahl ihrer Abgeordneten auf 19 fast verdoppeln, heißt es in der Studie.
Orbans FIDESZ im Blick
Eine entscheidende Rolle dürfte der ungarischen FIDESZ-Partei von Ministerpräsident Viktor Orban zukommen. Seit ihrem Ausscheiden aus der EVP-Fraktion im März 2021, mit dem die Partei einem Ausschluss zuvorgekommen war, ist die FIDESZ fraktionslos.
Wenn sie sich künftig beispielsweise den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) anschließt, könnten diese drittstärkste Fraktion werden. Der FIDESZ werden 14 Sitze prognostiziert. Gemeinsam mit der von rechtspopulistischen, nationalistischen und rechtsextremen Parteien dominierten Fraktion Identität und Demokratie (ID) würde sie fast ein Viertel aller Abgeordneten im EU-Parlament stellen. Die Fraktion ID könnte durch einen Zuwachs von 40 Sitzen fast 100 Abgeordnete stellen und wäre drittgrößte politische Kraft.
Die Koalition der etablierten Parteien – EVP, S&D sowie der liberalen Renew (RE) – würde den Prognosen zufolge von 60 auf 54 Prozent der Abgeordneten fallen. Damit hätte sie möglicherweise keine Garantie mehr für eine erfolgreiche Mehrheit, wenn sie gemeinsam abstimmt, analysiert EUobserver.
„Weckruf für europäische Politiker“
Zu erwarten sei auch, dass die Achse der Länder, die den Einfluss der EU von innen heraus begrenzen wollen, gestärkt werde. Dazu zählen Ungarn, Italien, die Slowakei, Schweden und im Fall der Regierungsübernahme des Rechtspopulisten Geert Wilders auch die Niederlande.
Ein Mitte-links-Bündnis, bestehend aus Liberalen, Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Teilen der EVP, das rechtsstaatliche Maßnahmen gegen Ungarn und Polen durchgesetzt hat, könnte der Studie zufolge ebenfalls ins Wanken geraten.
Die Politologen Hix und Cunningham wollen ihre Analyse als „Weckruf für europäische Politiker“ verstanden wissen, „was bei der Wahl auf dem Spiel steht“, berichtete der „Guardian“. Die Kampagnen müssten den Bürgern und Bürgerinnen Grund zum Optimismus geben und auf die Vorteile des Multilateralismus hinweisen. „Und sie sollten in zentralen Fragen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit deutlich machen, dass sie selbst und nicht die politischen Randgruppen am besten in der Lage sind, die europäischen Grundrechte zu schützen.“